Berlinale 2020 – Mein Goldener Bär


Die Berlinale 2020 ist vorbei, ich sitze schon im Zug zurück nach Freiburg und habe es in einer Woche geschafft sage und schreibe (oder eben nicht) zwei Tagesberichte zu verfassen. Eine nicht sonderlich beeindruckende Leistung, die aber vor allem dem vollen Programm der Berlinale geschuldet ist. Obwohl ich mich fast ausschließlich auf die Filme im offiziellen Wettbewerb des Festivals konzentriert habe und nur vier von den knapp 320 Filmen, die in anderen Sektionen liefen, gesehen habe, ist mit drei Filmen am Tag schon ein Großteil des Tageslichts erloschen. Und wenn man dann abends noch ein bisschen was von Berlin sehen, ein paar Stunden schlafen und vielleicht sogar noch über etwas anderes als Filme reden möchte, bleibt eben nicht allzu viel Zeit zum Schreiben. Aber auf die Verspätung der Deutschen Bahn ist ja Verlass und das bedeutet, dass ich sogar noch ein paar Minuten mehr Zeit habe, um die vergangene Filmwoche Revue passieren zu lassen.

© Dirk Michael Deckbar (Berlinale 2014)

 

Gestern wurden auf der festlichen Abschlussgala im Berlinale-Palast neben zahlreicher Momente des Fremdschämens seitens der Moderation auch die Preise des Festivals vergeben, darunter natürlich der renommierte Goldene Bär für den besten Film des Wettbewerbs. Dieser ging in diesem Jahr an den iranischen Film Sheytan Vojud Nabarad (There is No Evil). Die sehr emotionale Dankesrede der Preisträger macht klar, weshalb There is No Evil zweifelsfrei ein wichtiger Film ist und mit seiner politischen Botschaft einen Nerv bei der internationalen Jury um Jeremy Irons getroffen hat. Der Film verhandelt in vier nur lose zusammenhängenden Episoden das Leben im autoritären Staat des modernen Irans und bündelt die Handlung um eine Fragestellung, die nicht nur für die iranische Bevölkerung eine dringende und tiefgreifende Relevanz hat: Sollte man sich mit den bestehenden Verhältnissen arrangieren und auf ein besseres Leben in der Zukunft oder einem anderen Land hoffen, oder diktiert die Moral Widerstand innerhalb des Systems zu leisten, auch wenn man sich damit in Gefahr begibt?

Die FilmemacherInnen haben sich eindeutig für letzteres entschieden und ihre Bereitschaft ihr eigenes Wohlergehen aufs Spiel zu setzen, um im Iran einen Film über die politischen Verhältnisse zu drehen, muss dringend applaudiert werden. Der Regisseur Mohammad Rasoulof konnte den Preis selbst nicht entgegennehmen, da im Iran eine Ausreisesperre für ihn verhängt wurde. Seine Familie lebt in Hamburg. In der Dankesrede appellieren die Produzenten und Rasoulofs Tochter, die in einer der Episoden auch als deutsche Tochter eines iranischen Auswanderers auftritt, an eine offene Gesellschaft und betonen die friedfertige Natur und Gastfreundschaft der Iraner. Die Emotionen der RednerInnen und auch im Publikum unterstrichen die Bedeutung des Filmes und sind in einer Dankesrede sehr gut aufgehoben – weniger jedoch im Film selbst.

© Cosmopol Film

So hat There is No Evil leider das dringende Bedürfnis die innere Zerrissenheit der Protagonisten, die der Film mit seiner Dramaturgie und auch den schauspielerischen Leistungen vor allem in kleineren, ganz alltäglichen Momenten durchaus effektiv filmisch darstellt, in einigen Dialogszenen explizit zu machen. Statt die Bilder und die Entscheidungen der Charaktere für sich sprechen zu lassen, müssen die Figuren die Widersprüchlichkeit immer wieder formelhaft zusammenfassen. Zumindest an diesen Stellen, die oftmals auch den Bezug zum Alltäglichen aufgeben und sich einzig auf die Vollstreckung der Todesstrafe fokussieren, entwickelt sich eine Melodramatik, die den Film eher wie eine Fernsehproduktion für den Sonntagabend wirken lässt.

Das ist vor allem deshalb schade, weil der Film ansonsten erzählerisch so fantastisch funktioniert, vor allem in der ersten Hälfte. Immer wieder wird das allgemein eher gemächliche Tempo durch kurze Energieschübe unterbrochen. Dieser Kontrast sorgt vor allem in einer wirklich atemberaubenden Szene zum Ende der ersten Episode für eine der emotional mitreißendsten Momente der Berlinale. Was in There is No Evil kurze Momente sind, definiert den für mich besten Film der diesjährigen Berlinale: Berlin Alexanderplatz.

Von der hypnotischen ersten Szene an vermittelt der Film eine Energie, die ich im tendenziell eher gradlinigen deutschen Film (mit zugegebenermaßen großen Bildungslücken) nur sehr selten erlebt habe. Die definierende Ästhetik, die Döblins Romanvorlage von 1930 in das moderne Berlin verwandelt, ist hierbei nicht gänzlich originell und erinnert mitunter an Szenen aus Spring Breakers von Harmony Korine, oder an visuelle Momente aus Nicolas Winding Refns Werken. Aber mit der auf Nebelwolken schwebenden Kamera, den Neonfarben und dem pochenden Soundtrack schafft es Regisseur Burhan Qurbani eine Filmwelt zu kreieren, die mich über die dreistündige Laufzeit durchweg in ihren Bann gezogen hat.

Ähnlich wie There is No Evil beschäftigt sich der Film mit Themen, die in Hinsicht auf ihre Aktualität kaum zu übertreffen sind: Migration, soziale Ungerechtigkeit und Aufstiegschancen innerhalb der deutschen Gesellschaft. Statt einem Arbeitslosen, der sich im Roman nach einem Aufenthalt im Gefängnis in der reizüberflutenden Berlin der 30er-Jahre zurechtfinden muss, ist es im Jahr 2020 ein junger Geflüchteter, der nach der traumatischen Überquerung des Mittelmeers sein Glück in der Hauptstadt sucht. Und Francis will mehr als nur ein Bett und ein Butterbrot.

Qurbani setzt hierbei nicht auf eine realistische Darstellung des Ist-Zustandes, sondern auf eine durchweg ästhetisierte Form, die sich durch eine dichte metaphorische Ausgestaltung auszeichnet. Dies wird auch in der eigenwilligen Erzählstruktur offensichtlich, einer Unterteilung der Handlung in fünf Kapitel, zusammengehalten von einer Narration durch die Figur Mieze, die innerhalb der Filmwelt die Rolle von Francis‘ Liebhaberin und Retterin einnimmt. Ihre Erzählung hält sich hierbei nicht an Konventionen und scheint aus Versatzstücken der Romanvorlage zu bestehen, deren verschwurbelte Sprache als anachronistisches Element eine ganz besondere Wirkung entfaltet.

© Stephanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Ähnlich verhält es sich mit der Gestaltung der Nebencharaktere, allen voran mit der Figur Reinholds, die von Albert Schuch mit einer meisterhaften Bösartigkeit gespielt wird. Der Begriff Figur passt hier besser als Charakter, denn schon die Einführung Reinholds in einem Berliner Flüchtlingsheim macht klar, dass es sich hier nicht um einen zwielichtigen Mann, sondern um das personifizierte Böse handelt. Die Kamera filmt ihn von unten, mit gebückter Körperhaltung in der Ecke eines Fahrstuhls lehnend, einer knallroten Schirmmütze (die auch ohne Inschrift eine unverwechselbare Wirkung entfalten kann) tief ins Gesicht gezogen. Mit einer kinderhaften Stimme beginnt er in der folgenden Szene die frustrierten jungen Männer als Drogenkuriere zu rekrutieren. Auch wenn Francis es zu diesem Zeitpunkt noch schafft dieser Versuchung zu widerstehen, ist es Albert Schuchs schauspielerischer Gratwanderung zu verdanken, weshalb es nachvollziehbar bleibt, dass sich die wirklichen Charaktere des Films immer wieder in seinen Bann ziehen lassen.

Die Einführung im Flüchtlingsheim mag zwar auf dem ersten Blick zwar noch übertrieben erscheinen, kann aber im Laufe des Films ihre volle Wirkung und Bedeutung entfalten. Denn in seiner Funktion als das biblische Böse erfüllt Reinhold einen Zweck, den ich normalerweise in literarischen Werken eher langweilig finde. Doch in Kombination mit seiner einzigartigen Machart schafft es Berlin  Alexanderplatz den ewigen Kampf zwischen Gut (Mieze) und Böse (Reinhold) interessant zu gestalten und eine bemerkenswerte Tiefe zu verleihen. Die extreme Dichotomie dieser beiden Pole schafft eine Grauzone für den Hauptcharakter Francis und – was viel wichtiger ist – eine Grauzone für das Publikum, um sich mit dessen Entscheidungen auseinanderzusetzen und die Themen des Filmes auf eine Gesellschaft zu übertragen, in der nicht nur Immigranten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

Schade nur, dass der Film auf der Zielgerade einen Teil seines gewaltigen Potenzials verschenken muss. Mit einem unnötigen Epilog, den man zwar mit ein bisschen Gewalt in die nahezu kosmisch-religiösen Auslegung eingliedern könnte, bricht Qubani auch stilistisch mit der düsteren Atmosphäre, die er davor so erfolgreich inszeniert hat. Aber trotz dieses Makels bleibt Berlin Alexanderplatz ein mitreißendes Epos, das man unbedingt auf der großen Leinwand gesehen haben sollte.


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