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Zusammenfassung:
Das Radio verkündet es: Die Hundstage halten an. Es herrscht Stillstand, das Wetter ist unerträglich heiß und schwül, und die Bewohner der Retortenhäuser in Wiens Vorstädten treibt es auf die Sonnenliegen auf ihren kümmerlichen Terrassen und Balkonen. In dieser sterilen Tristesse leben alle möglichen unterschiedlichen Leute: Ein Sicherheitsberater kurvt durch die immergleichen Straßen, auf der Suche nach den Autozerkratzern und nach Käufern seiner Sicherheitssysteme; ein getrenntes Ehepaar versucht irgendwie über den Tod ihrer Tochter hinweg zu kommen, er, indem er einen Tennisball mit sich herumträgt und gegen jede Wand wirft, sie mit Besuchen in Swingerclubs und einem Masseur-Geliebten; eine andere Frau wird von ihrem Mann vergewaltigt, der seinen Freund mitbringt, welcher dann auch mal ran darf, am nächsten Tag aber mit geladener Pistole aufkreuzt und ihr seine Liebe gesteht; ein Opa feiert mit einer Frau den Geburtstag seiner verstorbenen Ex-Frau, und sie darf im Kleid der Ex-Frau für ihn strippen (mit vielleicht 70 Jahren auf dem Buckel); eine Frau trampt bei diesem und jenem mit und macht alle Fahrer mit Listen der 10 beliebtesten Talkshow-Moderatorinnen, Supermärkte, Swexstellungen, … wahnsinnig – diese und noch mehr skurrile, traurige oder lustige, brutale aber auch einfühlsame Geschichten bekommen wir zu sehen. Alle Personen sprechen Wienerisch (der Film ist größtenteils untertitelt, was zumindest für den Autor dieser Kritik immer wieder von großer Hilfe war), und alle kämpfen mit dem Leben. Schließlich kommt der ersehnte Regen, das Wetter kühlt ab – doch das Leben wird nicht leichter.
Kommentar:
Eine Mischung aus “Short Cuts” von Altman, “Taxi Driver” von Scorses und “Warum läuft Herr K. Amok?” von Fassbinder – so könnte man Hundstage bezeichnen, den ersten Spielfilm (nach diversen Dokus) von Ulrich Seidl. Wieder eine bissige Komödie aus Österreich, das für dieses Genre schon bekannt ist (man denke an “Komm, süßer Tod” oder an “Indien”). Der Stil ist quasi-dokumentarisch mit langen Einstellungen, die (Digital-)Kamera ist häufig ganz nah an den Gesichtern. Die verschiedenen Geschichten werden am Ende nicht zusammengeführt – die einzelnen Episoden werden nur zusammengehalten vom Dialekt, von dem unerträglichen Wetter und von der tristen Siedlung. Trotzdem zersplittert der Film nicht in Einzelteile – am Ende glaubt man sich wirklich vorzustellen zu können, dass alle diese schrägen Leute in diesem Vorort wohnen. Stellenweise hat der Film großen Witz, doch häufig bleibt einem das Lachen auch schnell im Halse stecken. Der Film ist bissig und immer wieder auch ziemlich brutal. Viel Sex (Gruppensex, SM usw.), viel Gewalt, viele gescheiterte Existenzen. Die Kluft zwischen dem Klischee des Wienerisch und den Figuren ist groß – aber gerade das macht auch den besonderen Reiz dieses Films aus: die Figuren erinnern an Sissi, aber sie benehmen sich, als kämen sie aus Harlem. So beginnt der Film beispielsweise damit, dass ein Halbstarker seine Freundin, die von einem anderen angebaggert wurde, „zurechtweist”, und das hört sich dann so an: „Jo gloobst du denn i bin debbart? Gloobst du des?” . Die Menschen versuchen sich gegen ihr Schicksal zu wehren, und das äußert sich häufig in Musik: immer wieder werden Lieder gesungen, romantische, heroische, lustige, traurige Lieder – doch auch die Musik kann den Schmerz nur für den Moment lindern, wirklich helfen kann sie nicht. Ständig liegt bei den vielen Pistolen auch ein Mord in der Luft,– doch anders als das drückende Wetter, das sich einmal im Film in ein riesiges Gewitter entlädt, entlädt sich die Aggression nicht in einen Mord, der Knoten wird nicht zerschlagen. Alles dreht sich im Kreis, und es scheint kein Entkommen zu geben; bis, am Ende, vielleicht doch endlich einmal der eine mit dem anderen redet. Um zu verstehen, wie erleichternd solch ein Angebot auf den Zuschauer wirken kann, und um nachvollziehen zu können, oder wieso zwei Menschen im Regen schweigend auf einer Kinderschaukel sitzen können und auch das Erleichterung bedeutet – deswegen sollte man sich Hundstage unbedingt ansehen.
Fazit: Ein bissige, teils sehr witzige, teils schwarze, auf jeden Fall unbedingt sehenswerte Komödie über die Ausweglosigkeit, Brutalität und Tristesse des Lebens in den Vorstädten Wiens.
Lieblingszitat: Werner Herzog über “Tierische Liebe”, einen Dokumentarfilm von Regisseur Ulrich Seidel: „Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut.”
Philipps Meinung in Zahlen: 9 von 10 Punkten.
Preise: Großer Preis der Jury, Venedig 2001
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Regie: Seidl, Ulrich
Kamera: Thaler, Wolfgang
Schnitt: Wagner, Andrea; Schertenleib, Christoph
Darsteller: Hofstätter, Maria; Mrwa, Alfred; Finsches, Erich; Lehner, Gerti; Weiß, Franziska; Wanko, René; Martini, Claudia; Rathbone, Victor; Bakonyi, Christian; Jirku, Christine; Hennemann, Victor; Friedrich, Georg
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Text: philipp, 03.08.2002