(USA, F, D 2011, 75 min, 35 mm)
Gemeinsam mit seinem Seelenpartner ein drittes Ich bilden? Liebe auf den ersten Blick im Domina-Verlies? Industrial Music und praktizierte Kunst als die Aufgabe und Inhalt im Leben? Das alles mag manche abschrecken, vielleicht sogar anwidern. In Marie Losiers preisgekröntem Dokumentarfilm „The Ballad of Genesis and Lady Jaye“ hat man als Zuschauer jedoch keine Chance, den ungemein sympathischen Menschen darin mit Abneigung zu begegnen: Genesis Breyer P-Orridge, geboren als Neil Andrew Megson und Mitbegründer des Industrial Sounds, trifft in den 1990ern seine große Liebe Jaye. Die beiden heiraten und beginnen neben zahlreichen Kunstprojekten, ihr größtes Werk: Mit Hilfe kosmetischer Operationen schaffen sie durch die Angeleichung ihrer Körper ein drittes gemeinsames Wesen, ein Pandrogyn.
“That’s how you discover interesting combinations – that you didn’t expect” sagt Genesis im Film und setzt sich dabei auf ein Keyboard, das dadurch ungewöhnliche Laute produziert. Dieses Konzept trifft auch auf die wunderbare filmische Komposition Losiers zu: Durch vermeintlichen Zufall werden verschiedene Dinge zusammengefügt und ergeben etwas Neues. Die von dem Schriftsteller Brion Gysin, der großen Einfluss auf Genesis ausübte, entwickelte Cut-Up-Methode aus der Literatur verwendet Genesis in seiner Kunst ebenso wie Losier sie für Montage von Bild und Ton weiterentwickelt. Letztere verbildlicht – wie es scheint ganz selbstverständlich – den Industrial Sound. Der pulsierende Rhythmus der Musik, findet sich im Rhythmus der Bilder auf der Leinwand wieder. Abgehackt, bunt und wackelig sind Montage, Material und Kamera ein großes Ganzes geworden, wie es im Dokumentarfilm nur selten gelingt. Form und Inhalt, also die Materialität des Found Footage und inszenierter Studioaufnahmen ebenso wie das Narrative, nämlich die Liebesgeschichte zwischen Genesis und Jaye, bedingen sich hier und sind untrennbar miteinander verbunden.
Die “wreckers of civilization” kommen einem dadurch überraschend nah. Die Filmemacherin, die auch Schnitt und Produktion übernahm, schafft es, ein ungemein persönliches Portrait zweier außergewöhnlicher Menschen und ihrer beeindruckenden Liebe zu kompilieren. Dabei bleibt sie der Kunstphilosophie der beiden treu – umso ehrlicher wirkt der Film, umso mehr ist man von ihrer Geschichte ergriffen.
Kinostart: 24.11.2012
Caligari-Jurybegründung:?Zwei Bräute im Park, zwei Nasenoperationen, zwei Petersilienbüschel. In Marie Losiers «The Ballad of Genesis and Lady Jaye» werden Erwartungen – und das ist gut so – enttäuscht. Ihre dokumentarische Collage ist keine angestrengte Analyse von Geschlechteridentitäten, keine klassische Musik-dokumentation, keine Freakshow. Die Regisseurin kommt den beiden Menschen, die sie portraitiert, spürbar nahe. Über die eigenwillige Form zieht sie den Zuschauer mit in eine praktizierte Einheit von Kunst und Leben: Found Footage wird kompiliert mit reinszenierten Passagen, unterschiedliches Filmmaterial trifft auf eine bruchbetonte Montage, das rhythmische Pulsieren der Musik wird in filmische Strukturen übersetzt. Vielleicht ist das der eine Weg, diese «größte Liebesgeschichte aller Zeiten» [“greatest love story of all time”] zu erzählen.
Text: Jennifer Borrmann, 15.11.2011