Far East Film 5
Udine, 24.04 – 01.05.2003
Es war fast wie jedes Jahr: Acht Tage lang rund 50 Filme von morgens frueh bis weit nach Mitternacht, abermals professioneller organisiert als ein Jahr zuvor — nur mussten aufgrund des SARS-Alarms viele Chinesen zu Hause bleiben. Auf Stammgast Johnnie To musste man trotzdem nicht verzichten: Er schickte eine Grussbotschaft per Video. Ganz kurz, doch Herz erwaermend: Der grosse Meister denkt an uns!
Doch hinein in medias res. Das Kinoland der Zukunft heisst Suedkorea. So bestritt es denn auch den Eroeffnungsfilm, SAVING MY HUBBY, worin, der Titel sagt’s, eine junge Frau ihren jungen Mann rettet, dem dreiste Gauner eine exorbitante Zeche abverlangen und ihn in ihrer Kaschemme festhalten. Wie weiland Griffin Dunne in Martin Scorseses DIE ZEIT NACH MITTERNACHT stolpert die Gattin nun eine komplette Nacht lang durch die dunklen Gassen, findet die verabredete Adresse zur Gelduebergabe nicht, verliert auch kurz ihr aufgeschultertes Baby, doch kommt am Ende alles wieder ins Lot: Mutti hat zu alter Form zurueckgefunden und greift ihre Volleyball-Karriere wieder auf, waehrend Maenne daheim das Baby pudert.
Soweit der Plot. Was den milde amuesanten Film letztlich aufwertet, ist der Blick fuer das gesellschaftliche Elend, zum Teil gepaart mit Kriminalitaet: Erpressung unbescholtener Buerger, Ausbeutung von Huren, das Schicksal der Obdachlosen, selbst die Eltern der Jungvermaehlten leiden an Entkraeftung und Krankheit.
Gleichzeitig entwarf SAVING MY HUBBY das letztlich liebevolle Bild eines Viertels, das sich einen Hauch von Nachbarschaftsgeist bewahrt hat. Eine Sehnsucht, die in mehreren anderen Filmen erneut aufflammte. Aus Suedkorea waere der Siebziger-Jahre-Herzwaermer BET ON MY DISCO zu nennen, in dem es zwei sich beharkende Jungscliquen mit einem Gangster zu tun kriegen, der sich seinen Traum von einer eigenen Disco erfuellt, aus Hongkong JUST ONE LOOK, in dem der vormalige METADE FUMACA-Regisseur Riley Yip auf seine glueckliche Sechziger-bis Siebziger-Jahre-Jugend im Schatten eines Kinos schaut. Beides kleine, wunderbare Nostalgiestuecke, die selbst Verbrecher als drolligen Teil der lokalen Foklore betrachten (ganz koestlich in JUST ONE LOOK: Anthony Wong).
Um vorerst bei Suedkorea zu bleiben: Schon lange drang die Kunde an unser Ohr, welch ein Riesenerfolg THE WAY HOME in seiner Heimat war. Leider konnte er die Erwartungen nicht ganz erfuellen. Die sproede Geschichte vom verzogenen Grossstadtbengel, der fuer ein paar Tage bei der bettelarmen Oma auf dem platten Lande deponiert wird und erst allmaehlich begreift, dass es ausser Batterien fuer den Gameboy noch andere Werte im Leben gibt, war in Details schoen beobachtet, blieb aber eher Behauptung. Dass die Alte dem Kleinen ans Herz wuchs, war nicht wirklich zu sehen; so fremd, wie sich beide begegneten, so beinah unverwandt gingen sie am Ende wieder auseinander.
Hysterisch-lustig ging’s in JAIL BREAKERS zu, einer vorzueglich konstruierten SK-Komoedie ueber zwei Ausbrecher, die vom neuen Gefaengnisdirektor angefleht werden, doch bitte, bitte wieder zurueckzukommen, und die am Ende, weil niemand aufmacht, sich genoetigt sehen, den umgekehrten Weg einzuschlagen, also einzubrechen!
In jeder Hinsicht luschig dagegen der Erstlingsfilm A PERFECT MATCH, in dem eine allein stehende, graumaeusige Eheanbahnerin nicht sieht, dass ihr schwierigster Vermittlungsfall der beste fuer sie selbst ist. Um Komik bemueht, doch ohne jedes erotische Knistern, war dies einer von gluecklicherweise nicht vielen Filmen, auf die man gern verzichtet haette.
Auch die allseits hoch gelobten Suedkorea-Action- und Psychothriller sind nicht immer erste Sahne: Im gilblich-schmutzig fotografierten YESTERDAY, worin eine Profilerin auf Stoeckelschuhen einem Serienkiller hinterherjagt, war zu bemerken, wie sich die Reihen des Opernhauses von Udine doch merklich lichteten, und beim Handy-Horror PHONE hielt man nur deswegen die Verbindung aufrecht, weil nicht abreissende, knueppelhart gesetzte Schocks uns an die Sitze nagelten. Die absurde, wenngleich slick gemachte Mixtur aus Edgar Allan Poe, Walt Disney und “Der Exorzist” war aber noch lange nicht das letzte Wort in Sachen Terror-Entertainment.
Das bisherige Maximum an technisch hoechstem Standard und niederster Moral bot die zynische Brutal-Groteske NO BLOOD NO TEARS. Eine taffe Taxifahrerin und ein keckes Gangsterliebchen sind es gruendlich leid, von ihren miesen, vor allem aber dummen Maennern ausgenutzt und geschlagen zu werden. So ersinnen beide einen Plan, wie sie die Kohle einsacken koennen, die der Freund der einen mit illegalen Hundekaempfen macht. Wie es Quentin Tarantino oder Guy Ritchie schon im Westen vorexerziert haben, uebernehmen launische Szene-Intermezzi und rabiate Zufaelle fuer einige Zeit die Regie, ehe der Film die Richtung zur wirklich nicht mehr komischen und typisch koreanischen Kloppe-Arie einschlaegt: Unterlegt mit groovig-schmissigen Jazz-Beats, schwingt sich das Maedels-Abenteuer zum geradezu orgiastischen Toetungsgematsche auf. Irgendwie faszinierend — und einfach abstossend: Schlagen, Bluten, Sterben zu schicker Musik.
Dass in vielen der gezeigten Filme Mundschutz getragen wurde, waere einem ohne die SARS-Seuche bestimmt gar nicht aufgefallen. Kein Zufall dagegen, dass das am haeufigsten fallende Wort “interest” war (Zinsen). Zum Beispiel im erwaehnten NO BLOOD NO TEARS oder in der bereits auf der Berlinale vorgestellten und auch beim Fantasy Filmfest laufenden Megatragoedie SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE — ein Hoehepunkt auch in Udine. Im Zuge der Wirtschaftskrise haben sich viele Haushalte in die fatale Abhaengigkeit von dubiosen bis offenkundig kriminellen Kreditgebern begeben und geraten nur immer schneller in die Abwaertsspirale.
Takeshi Miikes Sozialmaerchen SHANGRI-LA — JAPAN GOES BANKRUPT traegt das Thema schon im Titel. Eine grosse Firma geht konkurs und reisst die kleinen mit hinein, in diesem Fall eine familiaer betriebene Druckerei. Und dass die reichen Herrn, die sich unterm Tisch von Lustknaben oral verwoehnen lassen, nicht mit ihrem Privatvermoegen haften wollen, ist fast sonnenklar. Doch liebenswerte Penner und beherzte Pleitiers faedeln einen geschickten Aktienbetrug ein…
“Allein machen sie dich ein — nur gemeinsam sind wir stark” wird sich auch Hongkong-Kollege Herman Yau gedacht haben, schaltete wie Gewalt-Apostel Miike drei Gaenge zurueck und praesentierte eine moderne Robin-Hood-Geschichte, in der sich die Verarmten das zurueckholen, was ihnen und den Mitbuergern genommen wurde (und zwar von Johnnie-To-regular Lam Suet in einer over-the-top-Darstellung). Das Interessante daran: Die Drangsalierten sind in diesem Fall die Beamten der Polizei von Hongkong! Nachdem sie festgestellt haben, dass Zweit- und Drittjobs oder gar Selbstmord keine Option sind, besinnen sie sich ihrer eigentlichen Aufgabe: fuer oeffentliche Ordnung zu sorgen. So tun sie es denn auch, selbst wenn sie dafuer das Gesetz brechen muessen. Aber Gangster, die sich schon so sicher fuehlen, dass sie ihren Terror mitten im Praesidium verueben, — das geht ja nun auf keine Kuhhaut!
Dass die Hongkonger Filmindustrie lange Zeit kleinere Broetchen backen musste, wurde auch bei den anderen Filmen in Udine deutlich. VISIBLE SECRET II setzte auf die Sequel-Strategie, war nichtsdestotrotz der einfallsreichere Geisterspuk von beiden — und erzaehlte im subplot die interessante Geschichte der Entfremdung zweier junger Eheleute. In NEW BLOOD werden drei Teenage-Blutspender mit Visionen, Alptraeumen und dem Tod dafuer bestraft, dass sie Gutes taten. Stark in Stil und Look und teils unerhoert gruselig, schlafft der Film in der zweiten Haelfte leider ab, weil er zu hastig seinem Ende zugefuehrt wurde.
Und dann: INFERNAL AFFAIRS. Mehr als ein Hoffnungsstreif am Kinohimmel Hongkongs. In jeder Hinsicht brillant, ein Meilenstein! Der Psychokrimi um zwei einander unbekannte, im jeweils gegnerischen Lager operiende (Ex-) Polizisten (Andy Lau und Tony Leung Chiu-wai) hat der ehemaligen Kronkolonie Mut gemacht, das Geld wieder in frische und intelligentere Stoffe zu investieren. Ja, der kleine Stadtstaat, der seit der Rueckgabe an die Volksrepublik China an politischer und wirtschaftlicher Schwindsucht leidet, kann wieder stolz auf sich sein. Tatsaechlich hat ein einziger Film genuegt, das stark ramponierte Renommée des Hongkong-Kinos auch international wiederherzustellen: Hollywood hat sich bereits die Remake-Rechte gesichert, und selten hatte es einen besseren Riecher als hier.
Auch das japanische Mietshaus-Horrorstueck DARK WATER soll in Hollywood neu aufgelegt werden. Wer Regisseur Hideo Nakata nur als Teenie-Grusler bei THE RING kennengelernt hat, wird vielleicht ueberrascht sein ueber die formale Eleganz und erzaehlerische Reife, die er hier erreicht hat. Das geisterhafte Drama einer jungen, in Scheidung lebenden Mutter und deren kleiner Tochter ist mit seiner verstoerenden Aufloesung nicht unbedingt der Stoff, der sich im Land der geheiligten Familienwerte fuer ein Remake anbietet, aber warten wir’s ab.
Noch mal Japan, wieder die Last der Zinsen und der Aerger mit gesperrten Kreditkarten. In der Schwarzen Komoedie OUT pumpen sich vier Fliessbandarbeiterinnen schon gegenseitig an — Geld gibt’s aber nur als Bestechung dafuer, dass die eine der anderen beim Beseitigen des erwuergten Gatten hilft. Der hatte naemlich, und da schliesst sich der kleine Yen-Verkehr, alles beim Spielen verzockt… Man(n) sieht: In Zeiten grosser Not wird nicht mit kleiner Muenze zurueckgezahlt. Schade nur, dass Regisseur Hirayama Hideyuki und sein Drehbuchautor Chong Wishing nicht beim Thema bleiben: In seinen einfuehrenden Worten legte Hideyuki wert darauf, keinen Horrorfilm gedreht zu haben, sondern etwas darueber, “wie frau sich hinterher besser fuehlt”. So verlaeppert seine Geschichte als privatistischer Frauenthriller, ehe der in den Weiten einer Schneelandschaft sein ploetzliches Ende findet. Immerhin: zu drei Vierteln durchaus gelungen und köstlich gespielt.
Japanischen Nachbarschafts-Horror nach preisguenstiger Underground-Filmkunst-Art gab’s mit JU-ON: THE GRUDGE, der es inzwischen schon zu einer Fortsetzung gebracht hat (beide Teile laufen auch beim FFF): Ein dunkles Wesen nistet sich in Haeusern ein und laesst deren Bewohner katatonisch erstarren oder sterben. Sehr, sehr seltsam, mehr kann ich dazu nicht sagen. Auch PING-PONG, die Sportkomoedie ueber zwei befreundete Schueler, konnte mich mit ihren end-lo-sen Trainingsszenen nicht fuer Tischtennis begeistern.
Dann lieber nochmal GRAVEYARD ON HONOR, den der ruehrige r.e.m.-Verleih bereits in deutschen Off-Kinos ausgewertet hat. Der Film zeigt Regisseur Takeshi Miike von einer abermals neuen Seite: Sein in wenigen Tagen mit hoechster Konzentration gedrehtes Remake eines Yakuza-Klassikers zeigt, mit unvermuteten Momenten von Poesie und Junkie-Romantik, den Amoklauf eines Gangsters. Dabei ist die Besetzung mit dem beaengstigend praesenten, katzenhaften Kishitani Goro schon die halbe Miete.
Kommen wir zur Volksrepublik China. Eine typische Geschichte im Zeichen von Modernisierung, Zukunftsangst und Entfremdung erzaehlte das delikat photografierte Frauenportraet LIFE SHOW. Lai arbeitet auf einem pittoresken Markt unter freiem Himmel in einer Entenbraterei. Das Viertel soll abgerissen werden; am Horizont drohen bereits die riesigen Hochhaeuser des neuen Zeitalters. Wohl hat sich die Regierung verpflichtet, Kompensation zu zahlen, das wenige Geld wuerde aber nur fuer ein neues Heim im hohen Norden reichen. Lai, deren Mann im Gefaengnis sitzt, laesst sich ganz vorsichtig auf einen aelteren Mann ein — der sich als einer der Hauptverantwortlichen fuer den kommenden Abriss herausstellt… Der duestere Plot stimmt umso trauriger, als der Kampf ums Geld bereits alle Charaktere verbogen hat: Lai ist tief enttaeuscht und wuetend darueber, dass jede Arbeit nur an ihr kleben bleibt, zugleich versucht sie ihren Job so unauffaellig zu verrichten, dass neue Kontakte nicht wieder neue Enttaeuschungen bedeuten muessen. Ihren Anwalt dagegen umgarnt sie mit peinlich exponiertem Charme. Und wenn ihre Affaere mit dem Herrn vom Markt schon nach einer Nacht vorbei ist, weiss man nicht recht, ob Lai nur uebel ausgenutzt wurde, oder ob es nicht auch daran gelegen hat, dass Lai die ganze Zeit nicht “echt” war. “All unsere Sorgen haben wir uns nur selbst zugezogen”, gibt sie einer jungen Braut mit auf den Weg — weint, lacht und raucht eine Zigarette.
Ein weiteres kleines Meisterwerk aus China ist GONE IS THE ONE WHO HELD ME DEAREST IN THE WORLD. Das Mutter-Tochter-Drama ist allen Muettern gewidmet, nicht voellig frei von Kitsch — und doch einer der kluegsten, intensivsten Beitraege zum Problem, wie Menschen mit ihren kranken, sterbenden Eltern umgehen. Dabei schlaegt der Film einen kuehnen Bogen, der aufkommendes Sentiment im Zaume haelt: Gleich im ersten Bild liegt die senile, krebskranke Mutter tot neben der modernen Laufmaschine; das Ende dagegen zeigt die Tochter, bei der nun all jene Zuege zutage getreten sind, die sie an ihrer Mutter immer so gehasst hat. Teils heftig, manchmal komisch, spaeter auch zaertlich und durchweg hervorragend gespielt, wuenschte man einem Film wie diesem, dass er auch hier zu Lande gezeigt wuerde.
Unerheblich dagegen war das volkschinesische Katastrophen-Spektakel RED SNOW vom vormaligen CRASH LANDING-Regisseur Zhang Jianyia, das mit einem Overkill an Computer-Effekten fuer Lacher sorgte, bestenfalls fuer Befremden. Nur ein Film war tatsaechlich jenseits von Gut und Boese: das Teen-Kitsch-Opus WHERE HAVE ALL THE FLOWERS GONE? Nach drei Minuten mit poetisch verkleideten Baeumen und von Schaufensterpuppen bevoelkerten Lokalen habe ich die Flucht ergriffen. Das hat kein Film bisher geschafft!
Eine Reihe weiterer hoch interessanter, zuweilen meisterhafter Filme enthielten die beiden Retrospektiven des Festivals: zum einen suedkoreanische Unterhaltungsfilme aus den Sechziger-Jahren, zum anderen Werke des japanischen Trash-Regisseurs Teruo Ishii. Doch das waere einmal eine eigene Geschichte wert.
Peter Clasen
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Text: Peter Clasen, 01.05.2003