Der Kinokritiker André Bazin hat mal gesagt, dass die Fotografie die erste Kunst war, die es schaffte ohne Eingreifen des Menschen die Realität abzubilden. Nur nebenbei bemerkt er: „Die Persönlichkeit des Fotografen spielt nur für die Auswahl und Anordnung des Objektes eine Rolle, und auch für die beabsichtigte Wirkung.“[1] In diesem heruntergespielten Aspekt offenbart sich eine große Leerstelle, die vor allem im Hinblick auf den Dokumentarfilm deutlich zu Tage tritt. Scheint der Dokumentarfilm zunächst auf eine möglichst objektive Abbildung der Realität abzuzielen, so muss man dennoch bemerken, dass jeder Film von den von Bazin angeführten Einflüssen der Filmschaffenden abhängt. Auch der Dokumentar-Film bildet nicht die objektive Realität ab. Was unterscheidet aber dann Dokumentar- und Spielfilm voneinander?
An einem verschneiten dezemberlichen Samstag in Oldenburg verschwammen für uns die Grenzen. Mit dem aka-filmclub waren wir auf dem Bundeskongress des Bundesverbands für kommunale Filmarbeit und schauten mit anderen Kolleg*innen aus der kommunalen Kinobranche The Crown Shyness (2022) von Valentina Bertani. Wir begleiten das Zwillingspaar Benji und Joshua beim Erwachsenwerden, zwischen Schulabschluss, ersten romantischen Erfahrungen und einer sich ständig aneinander aufreibenden (Konkurrenz-)Beziehung. Im Zentrum steht die namensgebende Metapher der Kronenschüchternheit, dem Umstand, das benachbarte Bäume in gewissen Situationen ihre Äste nicht übereinander wachsen lassen, um sich so nicht gegenseitig die Sonne zu rauben. Benji und Joshua müssen das beide erst lernen und ihren jeweils eigenen Weg finden. Als Joshua sich der israelischen Armee anschließen will, zieht Benji mit, um es seinem Bruder gleich zu tun.
Dass die beiden jüdisch und behindert sind, habe ich nur deshalb bisher nicht erwähnt, weil es zwar Teil der filmischen Welt ist, aber nie in den Vordergrund gerückt wird. Mit Distanz werden zwar die daraus resultierenden Diskriminierungserfahrung ausgeführt, niemals aber wird uns als Zuschauenden erklärt, was eigentlich die Identität unserer Protagonisten ist. Ihre Behinderung ist zwar ständig präsent, bis zum Ende erfahren wir aber nicht, worum es sich genau handelt. So selbstverständlich, wie sie Teil ihres Lebens ist, ist sie auch Teil des Films.
Was hat das Ganze jetzt aber mit Bazin und der Diskussion über den filmischen Realismus zu tun? Wir beginnen den Film mit Closeups der beide Zwillinge, die sich für den Tag vorbereiten. Schnell wird klar, dass wir es hier nicht einfach mit einem Spielfilm zu tun haben, denn die beiden Protagonisten spielen sich selber. Auch inszenatorisch wirken diese ersten intimen Aufnahmen wie eine Dokumentation. Es ist schwer auf den Punkt zu bringen, aber irgendwas im Fraiming ließ mich den Film unmittelbar für eine Doku halten. Schnell wird aber klar, dass das niemals eine Doku im klassischen Sinne sein kann. Szenen werden im Schuss-Gegenschuss Format abgespielt, viele Einstellungen sind offensichtlich inszeniert. Nur jener Moment bis zur Realisation, dass es sich doch um einen Spielfilm handelt, ist wirklich schwer zu ertragen. Warum ist die Kamera so furchtbar nah am Gesicht der Charaktere bei einem sehr erbitterten Streit zwischen Benji und seiner Mutter? Es fühlt sich wie ein Aufatmen an, als ich realisiere, dass es doch nicht Realität ist, was ich da vor mir sehe. Viel zu intim und nah waren mir die Aufnahmen zuvor. Ich fühlte mich wie ein Eindringling in einer Welt, in die ich nicht hineingehöre.
Wir schauten den Film wegen der großen Teilnehmer*innenzahl des Kongresses gleichzeitig in zwei Räumen, darauf folgte eine Diskussion mit dem Publikum. Zu meinem Erstaunen stellte sich heraus, dass der Film im anderen Raum als Dokumentarfilm angekündigt worden war, was bei der Einführung, die ich miterlebt hatte nicht erwähnt wurde. Tatsächlich bezeichnet die Regisseurin Bertani ihren Film konsequent als Doku. Viel der darauffolgenden etwa einstündigen Diskussion drehte sich um dieses Genrebezeichnung, welche zu einer starken Problematisierung des Films durch das Publikum führte. Wie ist dann z.B. mit der schwierigen Szene umzugehen, in der Benji einer seiner Freundinnen Avancen macht und diese ihm mehrfach Nein sagen muss, bis er das akzeptiert? Warum soll dieser offensichtliche Spielfilm eine Doku sein?
Eben im Hinblick darauf funktioniert The Crown Shyness für mich als Film. Er ist eine Reflektion über den realistischen Charakter des Films. Die beiden Protagonisten scheinen sich selber zu spielen. Wie man aus Interviews mit Bertani erfährt, entstand der Film über einen Prozess von fünf Jahren mit den Zwillingen zusammen. Teile der Handlung waren vorgeschrieben, andere wurden durch die tatsächlichen Handlungen der beiden beeinflusst (so das Ende des Films, welches ich hier nicht vorwegnehmen will). Was da Fiktion und was Realität ist verschwimmt vor unseren Augen und kann vermutlich nicht mal mehr von der Regisseurin und den Schauspielern rekonstruiert werden. Der Film funktioniert so als Metapher für die Differenz zwischen dem filmisch Abgebildeten und den tatsächlich existierenden Figuren und Gegenständen, die zu einem fluiden Ganzen verschwimmen.
Insgesamt bleibt ein positiver Eindruck zurück, der durch die brillante Visualität zusätzlich verstärkt wird. Bertani kommt eigentlich aus dem Musikvideo und Werbefilm, deren Optik sie vielfältig zu verwenden weiß. Ausgeklammert wurde an dieser Stelle die Diskussion über den ethischen Umgang mit behinderten Menschen auf dem Filmset, welche ich durch eine ungenaue Kenntnis der Produktionsbedingungen des Films nicht beurteilen kann. Zumindest erscheint mir der Film aber als eine geistreiche Reflektion über das Aufwachsen als behinderter Jugendlicher.
[1] Bazin, André: Ontologie des fotografischen Bildes. In: Dersb.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln 1975, S. 21-27, hier S. 24.