Kafkaesker Egoshooter | SUNSET – Dir. László Nemes


[ KINOSTART ] Der neue, erst zweite Spielfilm des Oscarpreisträgers László Nemes kommt nun auch auf deutsche Leinwände: In drückend sommerlicher k.u.k.-Atmosphäre folgt Sunset (Napszállta) einer jungen Dame auf ihrer mysteriösen Vergangenheitssuche in einem Budapest, das bereits den Abgrund am Horizont dämmern sieht.

Mit seinem Debutfilm Son of Saul (Saul fía) avancierte László Nemes während des Wettbewerbs in Cannes 2015 zum heimlichen Favoriten um die Goldene Palme. Von der Berlinale beinahe in eine Nebensektion verbannt, entdeckte Cannes die außergewöhnliche technische wie erzählerische Ausdruckskraft des ungarischen Regisseurs. In der Folge gewann dieser nicht nur den Grand Prix unter Jury-Vorsitz der Coen-Brüder, sondern holte auch den Oscar als Bester fremdsprachiger Film für Ungarn seit István Szabós Klaus Mann-Stoff Mephisto 1981.

Wie sein (damaliger) Mitbewerber und ebenfalls Cannes-Zögling Yorgos Lanthimos (The Lobster, The Favourite) verlegte sich Nemes nun zum regulären Oscar-Schaulaufen nach Venedig. Im Wettbewerb offenbarte sich mit Sunset (Napszállta) als Nachfolger des eindringlichen Holocaust-Dramas Son of Saul eine deutliche Handschrift des Filmemachers und damit ein Mal mehr, wie souverän Nemes die Klaviatur der Filmkunst beherrscht.

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Budapest des Sommers 1913: Von Hitze und Pracht umgeben legt die Kundin unter einem luxuriösen Hut bald jenen wieder dankend ab und gibt sich als Íris Leiter (Julia Jakab) jenem Kaufhaus zu erkennen, das ihren Namen trägt. Augenscheinlich einzige Hinterbliebene der einstigen Eigner bricht sie damit in eine wohl eingerichtete Welt ein und (ver)stört das hastige Treiben hinter den Kulissen. Der heutige, um stete Haltung bedachte Inhaber Oskár Brill (Vlad Ivanov) scheint hin- und hergerissen – erst recht, als Íris ihn um eine einfache Anstellung als Hutmacherin dieser krönenden Stücke in diesem seinem Hause bittet. Bei jeder nun folgenden Preisgabe ihres Namens versteinern sich Gesichter, verstummen Gespräche, und eilig sucht man sich Íris mehr als ein Mal zu entledigen. Widerstand und zaghaftes Nachgeben wechseln in der Folge bei ihrer Suche nach den Geistern der Vergangenheit. Íris gerät von Beginn an zwischen die Fronten – deren Linien sie bei allem energischen Forschen nur verschwommen aus Andeutungen und Gerüchten wahrnehmen kann. Eine bedeutende jedoch scheint der ihr bis dahin unbekannte Bruder gezogen zu haben, an den man sich durch Íris‘ plötzliches Erscheinen nun mit tief sitzendem Grauen erinnert.

 

Ein rätselhaftes, luxuriöses Märchen aus Egoshooter-Perspektive, das hoch konzentriert und bedrohlich auf ein vielleicht unschönes Ende hinarbeitet, könnte Sunset sein. Eine einzige Traumsequenz, deren einzelne Szenen jedoch viel zu fassbar real erscheinen, sodass man von Anfang angezogen ist von einer Gewissheit, hier habe man es mit einer fast konventionell plausiblen Handlung einer jungen Frau auf Selbstfindung zu tun. Doch wird diese Gewissheit elegant und unnachgiebig zerbröselt von diesem erstaunlichen Konzentrat an gegenwärtiger hoher Filmkunst, die äußerst rar geworden ist.

Dabei scheint alles ein raffiniertes, und dennoch lösbares Rätsel zu sein. Zum Beispiel: Die rechtmäßige Erbin eines einst großen, herrlichen Hutsalons in Budapest der Jahrhundertwende, stößt auf ein bizarres Dickicht politischer Intrigen und zeitgeistiger Vernebelungstaktiken höherer, dem Untergang geweihter Mächte, die das winzige Individuum (noch) übersteigen. Íris einsame Suche inmitten der unübersichtlichen Menge lässt sie ihren Blick an den vielleicht eigentlichen Dreh- und Angelpunkt des Geschehens heften – den mysteriösen Bruder, der Schillers Räuber Karl gleich auf die dunkle Seite der Macht gewechselt zu sein scheint. Versucht man sich währenddessen zu erinnern, mit welchem Wissen denn Íris selbst anfangs aus dem zivilisierten Zug hinein in die Weltstadt Budapest stieg, dämmert es, dass auch aus ihr nur ein Phantom ohne Vergangenheit, ohne Gegenwart und ohne Zukunft zu werden droht.

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Íris ist dabei das Auge des Betrachters, der von ihr geleitet und ins Geschehen hineingesogen gleich ihrer selbst doch orientierungslos und unaufhaltsam benebelt voran rast – glaubt, zu verstehen, heran zommt – und zunehmend erkennt, längst jeden Anhalt verloren zu haben. Immer wieder schwenkt die Kamera selbstvergewissernd auf Íris‘ fragende, stolze, ja zornige Gesichtszüge, in langen Close-Ups von dem herausragenden Kameramann Mátyas Erdély wird die ganze Palette ihrer Emotionen fokussiert und fließend eingefangen. Gleichzeitig sorgsam buchstäblich untermalt, mischen sich in die wabernden Rot- und Goldtöne so hinterhältig wie unabwendbar die dunklen Schatten, die Íris’ suchende Fackel absorbieren. Íris schreitet stets auf der Hut, wankt und träumt mitunter, und versucht dennoch bewundernswert unbestechlich und unbeirrbar, voranzukommen in dieser perfekt angeordenten Umgebung; mäandert zwischen der Welt großer, trauriger, steinernder Schönheit und den fröhlichen Monstern, die dem Zerfall bereits entgegen tanzen.

Mit verzweifelter Sturheit späht sie in jede noch so dunkle Ecke, und es sind die stetig einander zugeworfenen, festen Blicke aller Figuren auf der Spielanordnung, die das rote Netz spinnen und den Film durchdringen, während flüchtige Worte dahin siechen und beinahe jede Bedeutung verlieren. Íris Identität, ihr Schicksal und das ihrer Familie mit allem, wofür sie einmal stand, splittern unter ihren Augen zu scharfkantigen Scherben, welche aufzulesen Íris bestimmt zu sein scheint. Die streng und visuell eindrucksvoll untermalte personale Erzählung bewegt sich eingeengt im großen, unfassbaren Ganzen der kommenden Katastrophe. Von der kaiserlichen Selbstvergewisserung, samt gnadenlosem und doch wohl geordneten Gunstgerangels, ist das anarchistische Chaos nur noch einen Schuss entfernt. Klassisch, aber keineswegs konventionell lässt der Film seine Protagonistin hineingleiten in dieses explosive Aufeinanderdriften. Klassisch ist hieran nur das wehmütige Setting der vergangenen großen Schönheit, wohlwissend, dass diese Fassaden aus herrlichen Hüten und ihrer schönen Macherinnen die perfekten Kulissen bilden für den melancholischen Fingerzeig auf den fauligen, monströsen Kern dieser Gesellschaft. Eine ähnlich schwermütige, bildschöne Ästhetik kam zeitgleich im estnischen Märchenhorror November (2017) von Rainer Sarnet auf, dessen Protagonistin sagenhaft durch die Kälte wandelt. Eine moderne, aus Computerspielen der zweiten Stunde herangezoomte Filmsprache wird von Nemes und Erdély in die klassisch schöne Bildkunst übersetzt, statt sie nur zu verfilmen. Die lautlose Bildsprache stellt sich damit in eine Reihe mit Sidney Lumets noch deutlich lärmenden Long Day’s Journey Into Night (1962), in der der Verfall einzelner Gesellschaftsvertreter unter anderen von Katharine Hepburn verstörend brillant porträtiert wird.

 

Und so senkt sich die Sonne langsam und das Licht schwindet, und mit ihm dieses schöne, traurige Gemälde, und die Schrecken verbreitende Nacht poltert herein – in eine einsame Schlafkammer, auf Gelagen hochgefährlicher Banden, in einen Verschlag am nebligen Ufer der Donau. Der Sumpf des Unaussprechlichen wird und bleibt sodann unheimlich, hüllt sich bedrohlich in immer weitere Rätsel und eskaliert spektakulär im Fackeln schwenkenden Überraschungsangriff der Realität in die Zivilisation und ihrer herrlichen Besoffenheitohne, dass die Trümmer danach wenigstens erstrahlten. Auch Íris entgleitet dem Betrachter zusehens und bricht mit schizophrenem Willen zur Selbsterkenntnis die Allianz.

Es ist ein kraftvoller, fest die Zügel spannender Film, und nur deshalb kann Íris’ kafkaeskes Egoshooting an allen gemauerten Fronten bis zum Ende seine subtil explodierende Wirkung wunderbar entfalten: Nichts ist klar, nichts wird erklärlich – auch wenn schweigend unerschütterlich das Gegenteil behauptet wird. Manch einen mag das in Venedig enttäuscht haben – László Nemes führt meisterlich auf falsche Fährten. Und so wurde er bei zwischenzeitlich begeistertem Rascheln im Blätterwald von der Wettbewerbsjury unter Vorsitz von Guillermo del Toro am Ende doch gänzlich und wirklich unverdient ignoriert. Dieser Film muss zugegeben im Ab- und Nachgang seine Schärfe kommen lassen eine hinterhältige, leise Chili eines cineastischen Bonbons, das stumm den Mund weit öffnen lässt.

 

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SUNSET (Napszállta)

Ungarn 2018

Regie: László Nemes

Drehbuch: László Nemes, Clara Royer, Matthieu Taponier

Kamera: Mátyás Erdély

Cast: Juli Jakab, Vlad Ivanov, Evelin Dobos u.a.

Länge: 144 Minuten

Premiere: 3. September 2018 (Venedig)

Deutscher Kinostart: 13. Juni 2019

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