Etwas mehr als eine Woche ist es nun her, dass der Siegerfilm der 72. Internationalen Filmfestspiele von Cannes bekannt gegeben wurde, und die Welt dreht sich wieder um sich selbst, statt sich um Tarantino, Jarmusch und Co. zu kreisen. Cannes. Wenn man das hört, tauchen tausend Bilder im Kopf auf. Fragmente eines roten Teppichs flackern durch die Vorstellung, glitzernde Kleider, große Namen der Filmindustrie, und schon bald fügt sich alles zu einem großen, teuer funkelnden Portrait zusammen oder vielleicht sogar zu einem Kurzfilm. Cannes, was ist das eigentlich wirklich? Und wie zum Teufel passt da der aka-Filmclub da hinein? Wir waren dort und können berichten: Ja, es ist wirklich so verrückt, wie man denkt. Aber eins nach dem anderen.
Wir kamen zu siebt, sechs Akanaut*innen aus Freiburg und eine Französin aus Bordeaux. Cannes ist kein Publikumsfestival, das heißt dass nur Menschen Zugang erhalten, die auch tatsächlich in der Filmbranche tätig sind. Wenn man sich auf dem Festival umhört, trifft man auf Produzent*innen, Drehbuchautor*innen, Schauspieler*innen, Filmverleiher*innen und und und. Das Publikum ist also bunt gemischt, hat aber eins gemeinsam: Alle haben sie irgendwie mit Film zu tun. Wir natürlich auch und so genossen wir das Glück, an einem der wichtigsten Filmfestivals der Welt teilnehmen zu dürfen. Schon die Website ist schwarz mit goldener Schrift.
Ist die Akkreditierung erstmal beschafft, geht der Rest wie von allein. In Cannes stehen Unterkünfte der verschiedensten Art zur Verfügung: Ob Yacht, Luxushotel oder Privat Suite, hier ist wirklich für jeden etwas dabei. Wir sind aber weder Brad Pitt noch Krösus, sondern der aka-filmclub, und so wählten wir die Unterkunft, die uns am bodenständigsten vorkam: Der Zeltplatz. Cannes liegt an der Côte d’Azur, die Sonne gehört hier dazu wie Prada-Tasche und Charteryacht, und im Mai herrschen Durchschnittstemperaturen von 22 bis 25 Grad. Wäre ja aber auch irgendwie langweilig, immer nur Sonne und warmes Wetter, dachten wir uns, und brachten das Wetter aus Freiburg mit: gemütliche 15 Grad und Dauerregen. Wer will schon Luxus, wenn er nasse Zelte haben kann? Nach zwölf Stunden Busfahrt im Direkt-Flixbus von Freiburg war das genau das Richtige.
Aber all den Widrigkeiten zum Trotz erkannten wir schnell den Wert unser provisorischen Behausung: Tagsüber die Sicht verblendet durch Galaveranstaltungen, Gestöckele über den roten Teppich und Privatpartys am Strand, ist es gar zu leicht, die Bodenhaftung zu verlieren. Aka-Filmclub? Pah! Aka-Filmpalast ! Aufgrund des harten Dresscodes auf dem roten Teppich gezwungen, schon morgens in Anzug oder Abendkleid zu schlüpfen, mit 1,84 Meter Größe die Riesen-Füße noch in Stöckelschuhe zu quetschen, nur um unbeholfen an der Zwei-Meter-Grenze kratzend von Film zu Film zu schaukeln, verschwindet der Kopf schnell in den Wolken. Sich nachts durch Schlamm schlappend doch wieder an dem beständig wachsenden Ameisenhügel vorbei in das kleine Zelt bugsieren zu müssen, tut gut: Wir sind eben doch nur der aka. Zum Glück!
Wären wir nicht der aka, könnten wir uns zu viel nicht leisten: Zum Beispiel wäre es sicher nicht gut gekommen, als wir wie die Hunnen über das gratis Buffet einer Strandparty herfielen, die Häppchen stapelweise nach hinten weiterreichend. Und es hätte auch bestimmt jemand etwas gesagt, als wir nach der Premiere deutscher Kurzfilme das auf ebenjener Party umsonst angebotene Bier nicht nur entgegennahmen, sondern in einem günstigen Moment Flasche um Flasche in unseren Festival-Taschen verschwinden ließen, um leise klirrend auch im Bus und Campingplatz noch weitertrinken zu können. Aber zum Glück sind wir eben doch der aka, und dass Akanaut*innen auf weiter Flur sehen müssen, wo sie bleiben, verstehen selbst die Film-Snobs aus Cannes.
Aber wie funktioniert denn nun das Festival? Kann ja nicht alles roter Teppich und Strandpartys sein, oder? Als Film-Professionelle Cannes zu besuchen, bedeutet vor allem eines: Anstehen. Ob Wettbewerbsfilm, Quinzaine, Un Certain Regard oder Spartenkino: Schlangen gibt es immer. Je nach Film tritt man sich dann schon mal zweieinhalb Stunden in den Bauch, Kartenspielen, Vordrängler*innen-beiseite-Schubsen und den Rest des Tagesprogramms planen inklusive. Für die Wettbewerbsfilme braucht man außerdem Einladungen: Gönnt einem der Online-Algorithmus, der einem auf die Bewerbung hin selbige zuteilt, den gewünschten Film nicht, bleibt nur eins übrig: Ab auf den Strich.
Moment mal. Auf den Strich? Ist das nicht etwas arg dramatisch? Ganz so weit ist es dann doch nicht gekommen. Der Strich, von dem wir sprechen, ist wesentlich angezogener: Vor dem Festival Palais streichen jene Unglücklichen herum, die keine Einladungen bekommen haben, und bitten auf Pappschildern (und natürlich voll bekleidet) um Tickets zu den Filmen. Weil man diese nicht kaufen kann, ist man darauf angewiesen, diese von glücklicheren Festivalbesucher*innen geschenkt zu bekommen. Wir geben es ungern zu, aber auch wir mussten strichern. Dafür saßen wir keine drei Stunden später mit Leonardo DiCaprio und Orlando Bloom im Kino.
Und die Filme? Ja, die Filme hatten es auch in sich. Mit sechzehn Filmen in acht Tagen bin ich diejenige von uns, die sich noch am wenigsten angesehen hat. Meine zwei Highlights waren eindeutig Parasite von Bong Joon Ho, der auch die goldene Palme gewonnen hat, und The Lighthouse von Robert Eggers, der in der Quinzaine lief.
Parasite ist ein Film, in dem man sich anfangs nett amüsiert an dem dargebotenen Schauspiel freut, bis der Film auf einmal in völlig neue Gewässer abdriftet, die einen herrlich durchschleudert und völlig begeistert zurücklassen. Ähnlich wie im vergangenen Goldene-Palme-Gewinner-Film Shoplifters geht es um eine verarmte Familie, die durch Tricksereien und halblegale Familienpower durchs Leben kommt. Wie Parasiten nisten sie sich nach und nach bei einer etwas naiven, aber stinkreichen Familie ein. Schön soweit, macht Spaß. Und dann wird aus dem netten Gauner-Familie-Film plötzlich etwas ganz anderes. Einfach herrlich.
The Lighthouse mit Robert Pattinson und Willem Dafoe gehört einer ganz anderen Sparte an. Der Regisseur Robert Eggers war bisher nur für seinen Horror-Film The Witch bekannt. The Lighthouse ist kein Horrorfilm, sondern eher altes Seemannsgarn. Ein wettergegerbter und Geschichten spinnender Leuchtturmwärter bekommt Verstärkung auf seiner einsamen Insel. Nur mit dem verrückten Alten, dem Meer und seinen Märchengeschichten konfrontiert, versucht der neue Wärter, den Turm in Stand zu halten, ohne dabei seinen Verstand zu verlieren. Schwarzweiß in einem 1:1 Format gedreht entsteht so Ästhetik auf höchster Form: jede Szene könnte ich einfrieren und sie mir an die Wand hängen.
Was bleibt also aus Cannes? Jede Menge Ideen und Gedankenexperimente, die Erkenntnis, dass vier Campingstühle überflüssig sind, wenn man eh den ganzen Tag ins Kino geht, und die Erleichterung, endlich wieder Schuhe mit Bodenhaftung tragen zu können. Ein Festival wie dieses treibt einen auf Dauer in den Wahnsinn. Wenn dann aber am letzten Tag die Yachten ihre Anker heben und die Hotels reihenweise schwarzverglaste Limousinen verabschieden, sticht das Herz doch ein wenig: Es ist, wie aus einem Fiebertraum aufzuwachen. Um hier durchzukommen, muss man Bong Joon Ho beim Wort nehmen und ebenso ungeniert ein Parasiten-Dasein führen wie die Familie Kim. Sind wir froh, das hinter uns gebracht zu haben? Ganz bestimmt. Würden wir nochmal hinfahren? Ja unbedingt!
Clara von Harling