Es gibt so ein Gerücht, dass der Gewinner des Goldenen Bären stets am Sonntagmorgen in der 9-Uhr-Pressevorführung zu bestaunen ist. Statistische Erhebungen sind nicht bekannt, vielleicht handelt es sich auch nur um eine Urban Legend. Oder vielleicht ist das auch nur der verzerrten Wahrnehmung der Journalisten geschuldet, die sich diese eine Vorstellung aufgrund der Terminierung traditionsgemäß gerne schenken und im Nachhinein dann jammern, ausgerechnet diesen, den Gewinnerfilm verpasst zu haben (das ist dann so, wie mit der Ampel, die angeblich immer rot ist).
Jedenfalls, dieses Gerücht könnte in diesem Jahr neue Nahrung finden. Heute Morgen, in der 9-Uhr-Vorstellung lief „Gloria“, eine chilenische Tragikkomödie. Gloria, 58 und geschieden, möchte dem Älterwerden trotzen und ihrem Leben neuen Schwung verleihen, die Energie dafür verspürt sie noch. Als sie auf einen ehemaligen, ebenfalls geschiedenen Marineoffizier trifft, scheinen beide ihr spätes Glück noch einmal gefunden zu haben. Die zunächst glückliche, jugendliche Liebesbeziehung gerät aber alsbald wieder ins Wanken, als sich zeigt, dass Rodolfo, der Marineoffizier, sich von seinen alten familiären Verhältnissen nicht lösen kann. Gloria kommt ins Nachdenken über sich und ihr Leben und trifft am Ende überraschende, starke Entscheidungen.
Dieser Film war großartig, da brandete beim Abspann gleich zweimal Jubel auf im Berlinalepalast. Neben der Dramaturgie, den Dialogen und dem unglaublich positiven Ende lag dies vor allem an der Hauptdarstellerin Paulina García, die den Film quasi in einer One-Women-Show trägt. Ähnlich Nina Hoss im letzten Jahr gefeierten Film „Barbara“ verkörpert García eine zunächst unsichere und unglückliche Frau, die im Laufe der Geschichte, auch und vor allem durch Rückschläge, mehr und mehr an Stärke gewinnt, bis sie sich am Ende emanzipiert (Parallelen also nicht nur im Filmtitel). Auch hier sind es am Ende die Männer, die ganz schön schlecht wegkommen. Sehr eindrucksvoll! Der Film bleibt auf dem Zettel, wenn es um die Vergabe der Film- und Darstellerpreise geht.
Ferner lief im Wettbewerb noch „La Religieuse“ bzw. „Die Nonne“. Ein Historienkostümfilm, im Frankreich des späten 18. Jahrhundert verortet und basierend auf dem 1796 erschienen Roman von Denis Diderot. Ganz unterhaltsam, mit sehr schönen Bildern und der Überraschung, dass sich Isabelle Huppert tatsächlich in ein nahezu vollverschleierndes Nonnenkostüm stecken lässt (ungeschminkt! Anweisung des Regisseurs Gillaume Nicloux). Hauptaugenmerk lag aber auf der jungen Hauptdarstellerin Pauline Etienne, die als Suzanne Simonin von ihren Eltern aus finanziellen Gründen als unverheiratbar angesehen wird und deswegen im Kloster untergebracht werden soll. Das geht erst mal schief, denn das junge Mädchen verweigert den entscheidenden Schwur. Auf Drängen der Eltern bekommt sie eine zweite Chance vor dem Herrn, doch als die Oberin herausfindet, dass Suzanne das Kloster verlassen möchte, wird das Mädchen zunächst Opfer von Drangsalierung und unmenschlicher Bestrafung und nach einer „Versetzung“ dann von direkten, eigentlich rücksichtslosen Annäherungsversuchen ihrer neuen Oberin (Isabelle Huppert eben). Das war schon ganz großes Kino, wie ausdrucksstark und anmutig die 23-jährige die schüchterne und aufrichtige Suzanne spielt. Ihre Suzanne werde dadurch zu einer wahren Braut Christi, meinte der Regisseur. Auch hier gilt: Vormerken für den Silbernen Bären.
Das war also der Tag der Hauptdarstellerinnen, vielleicht ja tatsächlich auch des Goldenen Bären. Die Woche ist zwar noch lang, aber da muss noch einiges kommen, um vor allem „Gloria“ zu toppen.
Der Wettbewerbstag gestern war eher lau („Gold“, „A Long and Happy Life“, „The Necessary Death of Charlie Countryman”). Nicht schlecht, aber auch nicht überragend, deswegen ist hier jetzt Feierabend 🙂