WER BIN ICH – UND WENN JA, WIE VIEL MEGABYTE?


[ ESSAY ] Die Welt ist in Fahrt – wie kann der Mensch da noch mithalten? Als die Brüder Lumière im November 1895 erstmals einer sichtbar verblüfften Öffentlichkeit “bewegte Bilder” präsentierten, taten sie dies zu einem modernen Höhepunkt des Fortschritts voll unbegrenzter technischer Möglichkeiten. In dieser schnelllebigen Technikeuphorie, zaghaft eskortiert von expressionistischer Verwirrt- bis Resigniertheit, wurde alles und jeder nunmehr exakt berechen- und austauschbar. Maschinen übernahmen erstmals an breiter Front Arbeiten, die kein Mensch in dieser Form und Geschwindigkeit je erledigen konnte und dessen Rang als vollendetste aller Schöpfungen sie langsam in Frage stellten. Mit Katastrophen wie dem dem industriell geführten Ersten Weltkrieg, dem dieser Jahre an allen Ecken gedacht wird, dämmerte den Schwarz- wie Weißsehern, dass der fahrenden Welt eine ethische Auseinandersetzung fehlt über die Frage, ob das, was technisch möglich ist, auch gewollt sein kann.

 

© Antje Lossin

 

NEULAND

Erste große Kinostars wie Charlie Chaplin suchen daher in Werken wie Modern Times (1936) in subtilem Tiefgang die geräusch- wie humorvolle Reflexion mit dem anhaltend unguten Gefühl, die Technik, die der Mensch da erschafft, könnte noch einmal ungeahnte Folgen haben. Science Fiction-Autoren liefern weitsichtig gefolgerte Szenarien der Zukunft, deren frühe Verfilmungen visuell heute niedlich bis komisch wirken – man denke etwa an das theaterhafte Set von Forbidden Planet (1956) samt kultigem “Robby the Robot”, der das dekorative Frauenbild, welches bis heute sowohl Kino- als auch Techniklandschaft durchzieht, in den Armen hält. Später kommen immerhin mit eindrucksvollen, leider oft kurzlebig generierten Bildern aus dem Computer wie die fallenden Codes aus Matrix (1999) hinzu. Dennoch gibt es haltbare Ausnahmen tatsächlich greifbarer Dystopien mit vieldimensionalen Figuren und nagenden Fragen in den Köpfen des staunenden Publikums: Ridley Scotts Blade Runner (1982), David Cronenbergs eXistenZ (1999) und “Matrix-Originalversion” Ghost in the Shell (1995) von Mamoru Oshii beispielsweise, den kritischen, pointierten Gedankenexperimenten mitten im Euphoriesuff der 80er und 90er mit dem Glauben, dass sich Mensch mithilfe der „unsichtbaren Hand“ des Internets nun endlich zum Guten wenden werde, schaffen Weitsicht auf jene Techniken, die seinerzeit noch trickreich mit Mitteln des Films erschaffen, in den letzten Jahren jedoch mehr und mehr Realität wurden.

Bis heute werden in dieser Manier Filme über die schöne wie düstere neue Welt für das Erleben auf Leinwand visualisiert, bis ab den 00ern die Digitalisierung ihrer körperlichen Hüllen ansteht, im Zuge dessen sich das geistige Medium Film, vom Filmdreh bis zur Aufführung im Kinosaal, nun fast völlig seinem haptischen Filmband entzieht. Der Kinosaal am Ende der Nahrungskette indes bleibt, genau wie das “Neuland” Internet, nach wie vor jener öffentliche, auch politische Lebensraum, den individuellen Zuschauergeist mit Fakten- und Fiktionengemischen jeder Coleur füttert. Die Schlüsselwörter lauten analog wie digital Vernetzung und Wechselwirkung, in deren Wirren das inzwischen ebenso ins Digitale übersetzte Ich in unzählige Teile zerfällt und sich erstmals “real” sicht- und auslebbare Avatare erschafft, die zuvor allenfalls mit Fiktionen der Kunst Ausdruck fanden. Damit aktualisiert es zugleich die nie zuvor so berüchtigte Subjektfrage, was das “Ich” überhaupt sein soll und wenn es das geben sollte, in welchem immer währenden Substrat es sich manifestiere. Oder wechsle “ich” im Shakespeare’schen Sinne etwa nur die Maske, relativ zum Gegenüber, was im Netz nunmehr besonders leicht und mannigfaltig ist?

 

INTELLIGENT – WER BESTIMMT DAS EIGENTLICH

Mensch nehme die Pixel seiner Existenz und setze sie ständig neu zusammen. “Erfinde dich selbst!” ist nicht nur Wahlspruch des von vorgefertigten Lebensentwürfen und Wertesystemen niemals zuvor so entfesselten Individuums, sondern bereits erdrückender Anspruch der galoppierenden Welt – dröhnender Aufruf, vor aller Augen nur nicht wieder in das stehende Bild der Vorkinojahre zu erstarren. Darauf ein Like für’s Ego, Robinson! Doch hat nicht Standhaftigkeit auch ihr Gutes? Syntaktisch salzig und etwas konservativ ausgedrückt: Hat mein neues Datensatz-Ich nicht auch beispielsweise jene Rechte verdient, die analog in Jahrhunderten bitter erkämpft wurden? Werden sie Cyborgs und Roboter haben dürfen und falls ja, woran soll sich das bemessen – nach Intelligenz oder “Wesensgleichheit” mit dem Menschen, wenn zugleich von einigen Forschern selbst der freie Wille jenes Menschlichen und somit seine Einzigartigkeit in Zweifel gezogen wird?

Einer der ersten, der die notwendigen logischen Denkschritte weit hin zu diesen Fragen über die erste selbstständig rekombinierfähige Maschine tat, war der Mathematiker Alan Turing. Sein außergewöhnliches Schaffen inmitten eines der schwierigsten Kapitel Europas wurde jüngst eindrucksvoll in The Imitation Game verfilmt. Zugänglich porträtiert trifft dieser schöne Geist bahnbrechende Feststellungen über Sein oder Nichtsein von Mensch und Maschine und der Perspektivität ihrer Einordnung in überkommene Denkmuster. – Zeitgleich legt auch sein Landsmann Orwell seine seitdem viel bemühte Schreckensvision eines Überwachungsstaats vor, die die Besorgnis erregende mediale Wirklichkeitsvermittlung ebenso thematisiert wie den Freiheit stiftenden, letztlich auf Null reduzierten persönlichen Kernbereich, in den sich normalerweise vor privaten wie staatlichen Antagonisten fliehen ließe. Dass Orwells Haus in London heute von dutzenden Kameras überwacht wird, ist einer jener absurden Realitäten, die im Fiktiven als billiger Kunstkniff abgekanzelt würden.

 

DAS INDIVIDUUM SCHLÄGT ZURÜCK

Ubiquitäre Daten und Informationen machen vor Nationalgrenzen nicht Halt und sind damit theoretisch vorbildhafte Verwirklicher der nach jenem Zweiten Weltkrieg so sehnlichst herbei regierten Einigung Europas im gesamten global village. Was Jahrhunderte lang nur per Brieftaube gelang, deren Besitz aufgrund des kostbaren Informationsvorsprungs lebensgefährlich war, wird nun in Sekundenbruchteilen um die Welt getwittert. Die laut trompetenden Ess-Apparate der Modern Times und Turings holprig surrende Maschine werden von den flinken, leisen Tastenklicks in Kellerzimmer-Lautstärke abgelöst. Das gut gepflegte Klischee-Bild vom Hacker, wie dem unvergessenen “It’s a Unix System, I know this” aus Jurassic Park, in dem ein kleines Mädchen mit ein paar Eingaben das System und Szenario rettet, wird mannigfaltig im Kino wie in der Mensa zu einem Typus verdichtet, der zwischen unterschätzter Unsichtbarkeit und heimlichen Heldentum mäandert. Dass sich jene Hacker, deren ursprünglich keinesfalls negativ konnotiertes Handwerk sehr viel langwieriger ist, da im Niemandsland analoger Aufmerksamkeit wieder finden, lässt sich auch nicht einfach mit dem alten Unix-Kommando Who am I so schnell überwinden. So fängt das Netz nicht nur sie auf, die hier vielfach nach Selbstbestätigung und Anschluss suchen. Auch werden Selbstdarstellung, Bedeutungsstiftung und Austausch auch und vor allem des Otto Normal Users  im unendlichen, unbestreitbar “realen” Lebensraum Internet sichtbar, in dem Gesetz und Recht genauso gelten wie analog und der Zugriff auf ihn – sogar laut Bundesgerichtshof! – ebenso zentral für die Lebenshaltung ist.

Dass eine kleine Gruppe politisch agierender Aktivisten lang anhaltende, durchdringende Wellen schlagen kann, beweist Citizenfour Edward Snowden, wohlweißlich, dass Medien wie Filme genauso funktionieren wie ein Facebook-Profil: Eine gute Story braucht ein Gesicht, und so wurde aus dem umgänglichen Typen in unserem Alter der Bote der schlechten Nachricht. Dieser phantasiert sich dennoch nicht in eine selbst verliebte Gallionsfigur internationalen Widerstands – siehe weißhaariger Australier – sondern wird von vielen empörten, ermutigten Bürgern dankbar als Referenzpunkt zitiert, von dem aus sogar ein neuer – auch deutscher! – Typus “politischer Schriftsteller” international zur Erarbeitung eines digitalen Völkerrechts aufruft.

 

DATENSCHUTZ IST SELBST-VERTEIDIGUNG

Zentrale Schlüsse aus dem Skandal könnten lauten, dass erstens nicht allein die praktisch unendliche Erfassung und Speicherung von exakten, objektiven, für sich neutralen Daten – was by the way die Geschichtsschreibung revolutionieren wird – das Individuum so angreifbar macht. Vielmehr die (Re-)Kombinierbarkeit und Wertungen, durch Menschen, vor allem aber durch Algorithmen, die an diese Daten geknüpft werden, laufen dem Wesen der Freiheit und Menschlichkeit fundamental zuwider. Immerhin geht auch unser Grundgesetz (theoretisch) vom “mit Würde (Art. 1) und Handlungsfreiheit (Art. 2) ausgestatteten Subjekt staatlichen Handelns” aus, wo zuvor ein abhängiger Untertan vor dem Herrscher kroch. Zweitens sind es nicht die so im Verborgenen wider besseren (Ge-)Wissens fies agierenden Antagonisten wie bei James Bond, sondern – schlimmer – lauter Minister, Geheimdienst-Direktoren und Abgeordnete, die voller Überzeugung glauben, einer Art fiktiven Sicherheit wirklich einen Dienst zu erweisen und dabei gemeinsam etwas erschaffen, das kein mündiger Bürger, der kein Untertan mehr ist, wird wollen können.

In diesem Sinne hat das deutsche Bundesverfassungsgericht seit seinem berühmt gewordenen “Volkszählunsgsurteil”, einem ungewöhnlich vorausschauenden obiter dictum, ein Jahr, bevor in Karlsruhe überhaupt die erste E-Mail in Deutschland empfangen wurde, manches Mal grundgesetzestreue Weitsicht bewiesen, denn “das diffus bedrohliche Gefühl des Beobachtetseins kann die Wahrnehmung der Grundrechte beeinträchtigen.” Gegen dieses anhaltend ungute Gefühl der ungeahnten Folgen, im Zuge dessen in einer Art vorauseilendem Gehorsam sogar schon digitale Selbstzensur zur Normalität wird, wird paradoxerweise mehr technisch als politisch aufgerüstet, mit reflektierenden Schals gegen Überwachungskameras statt der analogen Anwendung bestehender Gesetze auf den digitalen Lebensraum. Und so blieben die ganz großen, europäischen Je suis-Märsche bisher aus.

Von der von menschlichen Zielsetzungen und Wertungen gesteuerten, bis dato neutralen Technologie ist es dann doch nur noch ein kleiner Sprung hin zur völlig autonom agierenden Künstlichen Intelligenz, der unsere Avatare nunmehr existenziell ausgeliefert sind und in die sich nicht mal Joaquín Phoenix verlieben wird. Was wäre also eine Untersuchung wie diese ohne die Technik verrückten, dennoch traditionell eingestellten Japaner, deren Animewelten spätestens seit Ghost in the Shell weltweit Jung und Alt begeistern. Einer seiner würdigsten Erben, Summer Wars, beschließt als großartig ästhetische, fanatasievolle Dystopie.

Die Welt ist in Fahrt – die Frage, derer sich heute niemand mehr entziehen kann, lautet, wohin das Ich sie steuert.

 

Der für HighNoon überarbeitete Text erschien erstmals anlässlich der gleichnamigen Filmreihe in Kooperation mit dem Chaos Computer Club Freiburg im Spielplan des Sommersemesters 2015.

Text: Antje Lossin (April 2015)


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