Mit der Erinnerung ist das so eine Sache. Sie erfüllt einen, sie ist unendlich wertvoll und vor allem ist sie manchmal trügerisch. Ist nicht die Erinnerung an die Kindheit, an das eigene Aufwachsen vor allem deswegen oft so schön melancholisch, weil man sich sicher zu sein scheint, dass die Zeit gut war und die Sorgen und Ängste, die man hatte, verblassen? Adolf Winkelmann lässt in „Junges Licht“, seiner neuesten Milieustudie über das Ruhrgebiet, die frühen Wirtschaftswunderjahre aufleben und zeigt sie uns durch die Augen des 12-jährigen Julian, der mit Eltern und kleiner Schwester in einer Arbeitersiedlung direkt an der Zeche aufwächst – mit freiem Blick auf Förderturm und Kokerei, die überwältigende Dampfwolken in den Himmel stemmt. Die Mehrfamilienhäuser der Siedlung sind eng, grau und gleich, dafür haben die Nachbarn immer einen Spruch auf den Lippen.
Ein moderner Heimatfilm. Ein Label, das in den letzten Jahren fast ein wenig überstrapaziert wurde, trifft hier ins Schwarze. Das Ruhrgebiet, Deutschlands Arbeiterviertel, eignet sich vortrefflich als Projektionsfläche für Verklärungen der guten, alten Zeit. Hier die Kumpel mit ihrer ehrlichen Arbeit und der Kippe danach im rußgeschwärzten Mundwinkel, dort die Familie, der überschaubare Mikrokosmos im überschaubaren Heim, der Nachbar, die aufreizende Nachbarstochter, die großen Jungs auf der Straße. Und dann noch Sommerferien.
Doch das allein wäre kitschig und noch zu wenig für Regisseur Adolf Winkelmann und Ralf Rothmann, den Autor der gleichnamigen, preisgekrönten Buchvorlage. Beide sind Kenner des Ruhrgebiets und haben sich am Leben und Erwachsenwerden im Pott mit all seinen Schattenseiten mehrfach abgearbeitet. Denn die Enge, die vom Pendeln zwischen der Schicht im Flöz und dem heimischen Esstisch ausgeht, das Aufeinandergepferchtsein bringen Langeweile und Perspektivlosigkeit mit sich, die sich ganz unterschiedlich Bahn brechen, aber nie auf positive Art und Weise sondern so, dass Mütter depressiv werden, Familien zerbrechen und die Erwachsenen den Kindern so nahe kommen, dass es nicht mehr witzig und schon garnichtmehr kumpelhaft ist.
Der beeindruckende Kunstgriff, den Winkelmann wählt, um diese Ambivalenz zwischen Erinnerung und Realität zu verdeutlichen, ist die Entkopplung der inhaltlichen von der formalen Ebene: Während der träumerische Soundtrack und die poetischen Bilder von Kameramann David Slama, die -ohne experimentell sein zu wollen- unregelmäßig und fließend zwischen dem alten Breitwand- und dem modernen Cinemascopeformat sowie zwischen klarem schwarzweiß und den pastellfarbenen Tönen jener Zeit changieren, heile Erinnerungswelt suggerieren, wird uns eine Geschichte erzählt, in der die Protagonisten, jeder auf seine Art, einen Traum von Freiheit hegen, der spätestens am gegenüberliegenden Werkstor wieder eingefangen wird und sich dann als fehlgeleitete Energie beim Nächstbesten entlädt. Ist das eine schöne Kindheit? Nein, gewiss nicht, aber so ist es eben manchmal mit der Erinnerung.
Junges Licht, Deutschland 2016
Regie: Adolf Winkelmann
Buch: Nils Beckmann, Till Beckmann, Adolf Winkelmann. Basierend auf dem Roman “Junges Licht” von Ralf Rothmann
Kamera: David Slama
Musik: Tommy Finke
Mit Oscar Brose, Charly Hübner, Lina Beckmann, Peter Lohmeyer u.A.
Länge: 122 Min.
Verleih: Weltkino