[ FIRST LOOK REVIEW ] Der Karlsruher Regisseurin Maren Ade gelingt bei der Premiere ihres neuen Films „Toni Erdmann“ im Wettbewerb von Cannes überraschend das Kunststück der noch lange nachhallenden Standing Ovations, gespendet nicht nur von den Landsleuten, vor allem auch von den zahlreichen internationalen Gästen in Fachpublikum und Presse auf dem bedeutendsten Filmfestival der Welt.
An einem denkbar undankbaren, einzigen Termin, gestern Nachmittag um drei, direkt vor dem neuesten Streich „BFG“ von Superstar Steven Spielberg, legt die gebürtige Karlsruher Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin Maren Ade sieben Jahre nach ihrem Berlinale-Erfolg „Alle anderen“ ihren dritten Langfilm „Toni Erdmann“ vor. Dass dieser unscheinbar wirkende Beitrag als „deutscher“ seit Bekanntgabe der Wettbewerbsfilme im März gehypt wird, mag angesichts der Unterrepräsentation eben jener auf internationalen Festivals und der Vorherrschaft von Schweiger und Konsorten in der hiesigen Kinolandschaft verständlich sein. Und dennoch, nicht „Deutschland“ ist hier in Cannes geladen, sondern allein Maren Ade und ihre wunderbare Filmcrew – allen voran die beiden Hauptdarsteller Sandra Hüller und Peter Simonischek, die einer entfremdeten Vater-Tochter-Beziehung einen selten großartigen Ausdruck verleihen.
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Dem allein lebenden Alt-68er Winfried (Peter Simonischek) fehlt der Draht zu seiner erwachsenen Tochter Ines (Sandra Hüller), die als Unternehmensberaterin um die Welt und die Karriereleiter hinauf eilt. Nach dem Tod seines treuen Hundes beschließt Winfried, der noch nie seinen skurrilen Humor verloren hat, seine ehrgeizige Tochter unangekündigt in Bukarest zu besuchen. Ines ist dort gerade mit einem wichtigen Projekt beschäftigt und nicht gerade begeistert, ihrem Vater außerhalb der üblichen Pflichttermine zu begegnen. Die erhoffte Annäherung gerät ob Winfrieds eigenwilligen Scherzen und der subtilen Kritik an der Weltsicht des anderen entsprechend zum Reinfall. Winfried geht wieder seiner Wege, doch mischt er sich bald darauf als sein Alter Ego Toni Erdmann – mit schlecht sitzendem Anzug, Gebiss und Perücke – in diese moderne Welt seiner Tochter, in der neoliberaler Optimierungszwang und Selbstdarstellung keinen Platz mehr für emotionale Tiefenschärfen zulassen. Als „Businessman“ gibt Winfried jedenfalls nicht so schnell auf, seine Tochter doch noch – wenn auch nur einen Augenblick – „zu sehen“.
Beeindruckend an diesem Film – alles. Allerdings nicht auf die Spektakel haschende Weise, sondern mit einer unsagbar puren Natürlichkeit, mit der sich die schlicht anmutenden Geschichte der entfremdeten Vater-Tochter-Beziehung zu einer regelrechten „Persönlichkeit“ von einem Film entwickelt. Ungewöhnlich realistisch wägt er die vielschichtigen Nuancen dieser Beziehung ab, die so oder so ähnlich wohl viele Menschen kennen, und deren künstlerische Bearbeitung reflexhaft die Frage nach dem autobiografischen Gehalt aufwirft. All diesen – uralten und doch absolut aktuellen – Sujets von Verdrängtem, Unterdrücktem und Unausgesprochenem, wird mutig viel Raum und Zeit – der Film dauert immerhin 162 Minuten – eingeräumt, und dennoch bleibt so vieles subtil, dass dem Kopfkino des Zuschauers während und nach dem Film noch einiges zum Nachdenken und der eigenen Reflexion bleibt. Den beiden tragenden Figuren wird indes ebenso zarter wie hoher Respekt entgegen gebracht, dass sie auch in unmöglichsten Situationen, in der sie das Drehbuch versetzt, niemals bloßgestellt werden. Die Hauptdarsteller Sandra Hüller und Peter Simonischek verstehen es in ihrem grandiosen Spiel vielmehr, dem nüchtern betrachtenden, ernsten wie beizeiten unwillkürlich Tränen lachenden Betrachtern ihre Charaktere im wahrsten Sinne „nahe“ zu bringen.
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Nicht nur die Regisseurin war angesichts der fulminant gelungenen Premiere sichtlich gerührt von so viel Zuspruch, auch Peter Simonischek, routinierter Theater- und Filmdarsteller sowie gelernter Zahntechniker (sic!), packte zur Lockerung der Rührung durch so einen besonderen Moment das falsche Gebiss von Toni Erdmann aus – einer jener Augenblicke, die festzuhalten den Figuren des Films verwehrt bleibt, von Maren Ade und ihrer Crew mit diesem Film jedoch auf die Leinwand gebannt wurde – das ist schlichtweg höchste Filmkunst und ein absoluter Palmen-Favorit.
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TONI ERDMANN
Competition
Regie: Maren ADE
Cast: Sandra HÜLLER, Peter SIMONISCHEK
Deutschland/ Österreich 2016 | 162 Minuten
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Text: Antje Lossin, 15.05.2016 – Cannes‘16