[ FIRST LOOK REVIEW ] Der neue Film des Chilenen Pablo Larraín inszeniert die Flucht des kommunistischen Dichters Pablo Neruda Ende der Vierziger Jahre als poetisches, aufreibenden und leidenschaftlich geführtes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Chiles zunehmend autoritärer Staatsmacht und dem starken Einzelkämpfer mit einer breiten Opposition im Rücken, die bereits frühere Filme Larraíns bestimmt haben.
Eine Menge Vorschusslorbeeren im Indie-Blätterwald erhielt der jüngste Film des derzeit bekanntesten chilenischen Regisseurs, Drehbuchautors und Produzenten Pablo Larraín, der 2012 mit seinem später für den Oscar nominierten Film NO! bereits in der Quinzaine Des Réalisateurs (Director’s Fortnight) in Cannes gastierte. Zuletzt durfte Larraín den Großen Preis der Jury auf der Berlinale 2015 für sein unbestechliches Drama um Verbrechen in der katholischen Kirche, EL CLUB, entgegen nehmen.
In NERUDA spürt Larraín nun einer der bewegtesten politischen Phasen Chiles bis zur Einsetzung Augusto Pinochets nach und porträtiert die Flucht des Kommunisten und späteren Literatur-Nobelpreisträgers Pablo Neruda (Luis Gnecco) im Jahr 1948.
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Neruda – ein bis heute sowohl in Literatur- als auch linken Politikkreisen hoch verehrter Name. Ende der Vierziger Jahre wird der Dichter zu einem der schärfsten Kritiker des seinerzeit von extrem unterschiedlichen politischen Strömungen zunächst unterstützten Präsidenten Gabriel González Videla (Alfredo Castro). Ob hinter seinen profanen Kulissen oder öffentlich im Senat – im Laufe des aufziehenden Kalten Krieges greift der als unabhängiger Kandidat von der Liste der Kommunistischen Partei Chile gewählte Senator Neruda den radikalen Präsidenten stets scharfzüngig und zunehmend offen an. Nach mutigen Sätzen wie “Statt die Armut zu bekämpfen, wie Sie es versprochen haben, festigen Sie nur die Macht der wenigen Reichen, die das Volk aussaugen wie Vampire” erreicht Videla schließlich die Aufhebung von Nerudas Immunität und den ersehnten Haftbefehl gegen den wortreichen Querulanten. Für den geselligen Lebemann beginnt damit eine entbehrungsreiche Flucht durch und schließlich aus Chile.
Inszeniert als farbenreiches, poetisches Katz-und-Maus-Spiel zwischen Neruda und dem ehrgeizigen jungen Polizisten Oscar Peluchoneau (Gael Garcia Bernal), den Neruda gekonnt immer wendungsreicher an der Nase herum führt, halten sich die Kräfteverhältnisse von Staatsmacht und starker, subversiver Opposition die Waage. Denn dem (über)mächtigen Staatsapparat kann der mutige Schriftsteller die ungebrochene Unterstützung aus der vorwiegend einfachen und außenseitigen Bevölkerung für ihn entgegensetzen, die von Neruda auch aus dem Untergrund heraus mit großer Poesie und antifaschistischem Leuchtfeuer versorgt wird. Der unbeirrbare Einzelgänger Peluchoneau indes ist Neruda schließlich bis in die unwirtliche Bergwelt Chiles auf den Fersen.
Pablo Larraín widmete sich als Regisseur wiederholt der bewegten chilenischen Politikgeschichte, die ihn stofflich bisher vordergründig in die Militärdikatur unter Augusto Pinochet geführt hat. Mutige, einzelne Charaktere bestimmen den manchmal unfreiwilligen Kampf gegen ein aus Instabilität geborenes, zunehmend einengendes System. Mit NERUDA greift Larraín diesmal auf einen realen Mann des Volkes vor der Militär-Junta zurück, der sich selbst auf der politische Bühne um eine gerechte, freiheitliche Politik für seine Landsleute versucht. Der Gegensatz von radikalem Anspruch der breiten Bevölkerung und unbeirrtem Machtstreben sich verfestigender Eliten sowie all jene liberalen, radikalen, demokratischen und sozialistischen Facetten politischer Zersplitterung irgendwo dazwischen, findet Ausdruck in gleichsam schrulligen wie entgegen gesetzten Gestalten eines Kommunisten und seines Jägers.
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Dem charakterfesten, erfahrenen und entschieden antifaschistischen Poeten Neruda mit festem Platz im Leben, der auch die verbotenen Werke seiner deutschen Schriftsteller-Kollegen während der NS-Zeit ins Land holte, stehen die Sympathien klar zur Seite. Ihm gegenüber wird der junge, umtriebige Polizist als Charakter gezeichnet, der sich seine Rolle noch selbst herbei reden muss und unbeholfen wie zart größenwahnsinnig die Bemühungen von Nerudas gefährlichen Gegnern zusehens ins Lächerliche zieht. So sorgt das Wechselspiel der Kontrahenten, bei dem sich die Rollen von Jäger und Gejagtem helixförmig in einander verweben, bei allem Ernst der großen Politik und Zeitgeschichte stets für einen leidenschaftlichen und humoristischen Tenor, der NERUDA bei aller poetischen Romantisierung zum menschelnden Crashkurs in chilenischer Geschichte und zeitlosen Lehrstück über die Mechanismen der Macht werden lässt, wie es gerade wieder das größte Land des Kontinents gekonnt aufführt.
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NERUDA
48. Quinzaine Des Réalisateurs
Regie: Pablo Larraín
Cast: Luis Gnecco, Gael García Bernal, Alfredo Castro, Mercedes Morán
Chile/ Argentinien/ Spanien/ Frankreich 2016 | 107 Minuten
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Text: Antje Lossin, 14.05.2016 – Cannes’16