Harper’s Island – Vom passiven Zuschauer zum aktiven Teilnehmer


Die amerikanische Horror-Fernsehserie “Harper’s Island” als Teil eines multimedialen „social entertainment“-Projekts

“13 weeks. 25 suspects. 1 killer.” Mit diesem Teaser und dem damit verbundenen Aufruf an die Zuschauer, aktiv mitzudenken und -zuarbeiten wurde für die Fernsehserie Harper’s Island geworben. Die Zuschauer sind dazu angehalten, die große Frage des Whodunnit zu beantworten, sich Gedanken zu machen, wer der Killer ist, sich klar zu machen, dass man dafür lediglich 13 Wochen Zeit hat, bevor die Geschichte abgeschlossen ist und aus einer relativ großen Anzahl an Verdächtigen das nächste Opfer zu erraten. Die Macher der 2009 ausgestrahlten US-amerikanischen Horror/Mystery-TV-Serie haben eine multimediale Strategie entwickelt: die Zuschauer beteiligen sich aktiv an der Detektivarbeit, d.h. erstens sie sehen sich die Serie an und zweitens nehmen sie an einer realen Community teil für eine fiktive Horrorgeschichte, die mit ihrem Foren und Quiz’ zu Handlung, Charakteren und Opfern und dem Online-Projekt Harper’s Globe dem Zeitalter der Multimedialität und Interaktivität im Web 2.0 gerecht wird.

Die Serie lief vom 9. April 2009 bis 11. Juli 2009 auf CBS und besteht aus 13 Folgen, die den Mystery-plot zufriedenstellend abschließen. Die Originaltitel geben die Geräusche der in jeder Folge geschehenen Morde wider: Whap, Crackle, Ka-Bam, Bang, Thwack, Sploosh, Thrack-Splash-Sizzle, Gurgle, Seep, Snap, Splash, Gasp, Sigh. Seit August 2009 strahlt ProSieben die Serie in Deutschland aus.

2001 wurden auf Harper’s Island sechs Menschen auf brutale Weise getötet. Sheriff Charlie Mills (Jim Beaver), dessen Frau ebenfalls zu den Opfern zählte, erschoss den Mörder John Wakefield (Callum Keith Rennie) damals. 2008 soll nun die Hochzeit zwischen Henry Dunn (Christopher Gorham) und Upper-Class Girl Trish Wellington (Katie Cassidy) auf der Insel stattfinden. Unter den Gästen befindet sich auch Abby Mills (Elaine Cassidy), die beste Freundin Henrys und Tochter des Sheriffs. Vom Vater weggeschickt, ist es für sie das erste mal seit dem Mord an ihrer Mutter, dass sie auf die Insel zurückkehrt. Bereits auf dem Boot, das die 25-köpfige Hochzeitsgesellschaft zur Insel bringt, geschieht – unbemerkt – der erste Mord an Ben Wellington. Während jeder der 13 Folgen der Serie stirbt mindestens ein Gast bzw. Inselbewohner. Alte Geschichten, Beziehungen und Geheimnisse kommen nach und nach ans Tageslicht und zahlreiche Charaktere machen sich verdächtig. Was niemand weiß: Der Bräutigam ist John Wakefields Sohn und sein Mittäter.

Die Geschichte bildet eine prädestinierte Ausgangsposition für Ratespiele und Diskussionsforen rund um den Handlungsstrang. Auf der CBS-Website hatten User die Möglichkeit am “Harper’s Island Pick The Victim Game” mitzuspielen und 1000 US-Dollar zu gewinnen. Für jedes richtig geratene Opfer wurden dem Spieler 100 Punkte auf sein Konto gutgeschrieben (sogenannte “Victim Points”), dazu gab es noch 30 Bonuspunkte für Extrafragen. Moderne Zuschauerbindung: Je mehr Leute sich an den Spielen beteiligen und Teil der Communities werden, desto höher die Einschaltquoten. Spiel und Serie bedingen sich gegenseitig.

Es ist aber auch ein Spiel mit den Sehgewohnheiten des Fernsehpublikums. Jeder horrorversierte Zuschauer denkt das ein oder andere Mal, er hätte den Killer enttarnt. Schon in der ersten Folge ist Henry verdächtig, denn er hat sich erstens die Insel des Horrors als Hochzeitsdestination ausgesucht und zweitens bringt er nach sieben Jahren seine beste Freundin Abby an den Ort ihrer schlimmsten Erinnerungen. Trishs Vater aber ist ebenfalls gleich zu Beginn verdächtig. Er ist mit der Heirat nicht einverstanden und so versucht er alles, um seine Tochter vor einem Fehler zu bewahren. Viele Freunde von Trish und Henry dagegen wirken von Anfang an wie stereotype und deshalb potentielle Opfer des Serienkillers: blonde hübsche Mädchen, die die Augen der Trauzeugen auf sich ziehen – keine gute Position in einem Horrorfilm. Ähnlich verhält es sich für Liebespaare. Spätestens seit “Scream” (Wes Craven) weiß auch der durchschnittliche Zuschauer, dass niemand in einem Horrorfilm Sex haben sollte, denn meist wird man mit dem Tod bestraft. Im Gegensatz dazu erscheint Jimmy (C.J. Thomason) schon in seiner ersten Szene ambivalent. Er ist zwar der underdog, von jedem unterschätzt, aber im Grunde der gute Junge von nebenan. Auf der andern Seite verkörpert er auch den von Abby verlassenen Ex-Freund und verletzten potentiellen Täter. Sein aufbrausender Freund Shane (Ben Cotton) dagegen ist charakterlich zwar unsympathisch, jedoch anders als Jimmy, überschätzt und ein Protagonist, der häufig zu unrecht verdächtigt wird. Abby ist das “final girl” (Clover 1992) der Horrorserie. Sie erzählt die Geschichte aber nicht aus einer allwissenden Perspektive der Überlebenden, so dass sie dem Zuschauer das Gefühl von Sicherheit verleiht. Sondern sie kommentiert live in jedem Vorspann mit, so dass der Zuschauer den plot in der Gegenwart verortet.

Das Ratespiel um die Opfer wurde dadurch erhöht, dass selbst die Schauspieler nicht wussten, wann sie das Zeitliche segnen würden. Angeblich erfuhren sie erst am Tag, an dem sie ihr Skript erhielten, von ihrem Tod. So konnte man als Zuschauer nicht nur auf der CBS-Website, sondern auch in Social Networks wie facebook Gruppen und Foren beitreten, in denen gemeinsam diskutiert und kommentiert wurde. Eine anonyme User-Gemeinschaft bildet sich – das große Thema im Medienzeitalter.

Bereits vor und teilweise zeitgleich mit der Fernsehserie wurde die von CBS und der social entertainment Firma EQAL (die Macher von “lonelygirl15” und “KateModern”) produzierte “social show” Harper’s Globe realisiert. Am 18. März ging sie online und lief dort 16 Folgen lang bis vier Wochen nach Serienstart der TV-Serie parallel weiter. Eine Communitywelt, in der Realität evoziert wird, bildete sich. Miles Beckett, Chef von EQAL, nennt Harper’s Globe eine “tie-in webisode” (www.scifiwire.com 2009), die anders, als alles andere vorher sei. Es handelt sich um beides, eine Online-Show und ein Social Network, an denen man sich aktiv beteiligen und nicht nur passiv zusehen kann. Die Geschichte verschafft einem ein Hintergrundinformationen über die Geschehnisse auf der Insel. Durch Videos, Fotos und Blogs der Charaktere, die auf ihren jeweiligen Profilseiten gepostet werden, kann man gemeinsam mit den Charakteren und anderen Mitgliedern der Community anschauen, wie sich die Horror-Mystery-Geschichte entwickelt. Die Teilnahme in der Geschichte gestaltet sich so, dass man mit den Charakteren kommuniziert und die Geheimnisse des Harper’s Globe löst (www.hapersglobe.com/faq 2009).

Die Geschichte von Harper’s Globe vermischt sich mit den Geschehnissen von Harper’s Island. Robin Matthews kommt auf die Insel, um die Lokalzeitung zu digitalisieren und auf www.harpersglobe.com online zu stellen. Dazu gestaltet sie eine Art Video-Blog und fordert Internet-User auf, sich daran zu beteiligen, Videos hochzuladen, mir ihr zu kommunizieren, usw. Was sie nicht weiß: John Wakefield hat sie dazu gebracht, auf die Insel zu kommen, um seine Morde zu dokumentieren. Zwei frühere Freunde von Robin sind außerdem durch Wakefields Hand ermordet worden. Letzterer hat sich nun mit dem Usernamen Dangerous Wreck (DW; Dunn-Wakefield) auf der Website des Harper’s Globe angemeldet und postet hier nicht nur Videos aus Robins Vergangenheit, sondern auch erschreckende aus der Gegenwart. Nach und nach werden Robins Freunde und Bekannte auf der Insel – darunter auch Ben Wellington, das erste Opfer von Harper’s Island – Opfer des Mörders. So sind einige Charaktere gleichzeitig Protagonisten der TV-Show, Online- und TV-Killer sind identisch.

Zwei fiktive Geschichten, zwei Medien, zwei verschiedene Perspektiven – und doch gibt es Überschneidungen der Protagonisten, Orte und Begebenheiten. Die “final girls” Robin Matthews und Abby Mills sind die Hauptdarsteller und Kommentatoren. In Robins Geschichte wird Realität dadurch evoziert, indem sie reale Internet-User dazu animiert, online mitzugestalten, an der Geschichte mitzuwirken und den Zuschauern das Gefühl gibt, aktiv an ihrem Leben teilzunehmen. Fiktion und Realität treffen sich auf narrativer Ebene. Die Veränderungen in der Nutzung des Internets haben bereits Auswirkungen auf die Nutzung anderer Medien. So wird das Internet nun komplementär genutzt im Zusammenhang mit – wie in diesem Fall – dem Fernsehen. Die Gleichzeitigkeit der Geschichten von Harper’s Globe und Harper’s Island verdeutlichen die Gleichzeitigkeit und Schnelligkeit von Informationen im Zeitalter des Web 2.0. Die guilty pleasure (Wisker 2005) des Zuschauers im Horrorgenre wird von den Machern genutzt, um traditionelle Narrative und modernes Webverhalten zu Neuem zu verbinden. Ungewohnte Erzähl- und Sehmodelle, alte Erzähl- und Sehgewohnheiten verbinden sich zu komplexen Strukturen, denen ein einziger Autor alleine möglicherweise nicht gerecht werden könnte. Es geht um Interaktion und Kollaboration, die neue Narrationsmechanismen bilden, die wiederum das Verlangen, Teil von sozialen Mediengemeinschaften zu sein, bedienen.

Harper’s Island

USA 2009; Regie: Jon Turteltaub, Sanford Bookstaver, Steve Boyum, Guy Bee, Steve Gomer, James Whitmore Jr., Scott Peters, Rick Bota, Craig Baxley, Seith Mann; Drehbuch: Ari Schlossberg, Jeffrey Bell, Jill Blotevogel, Lindsay Sturman, Tyler Bensinger, Robert Levine, Nichelle Tramble Spellman, Christine Roum, Dan Shotz, Robert Levine; Musik: David Lawrence; Kamera: Robert McLachlan; Schnitt: Jonathan Chibnall, Monty DeGraff, David Handman; Darsteller: Elaine Cassidy, Christopher Gorham, Katie Cassidy, Cameron Richardson, C.J. Thomason, Adam Campbell, Dean Chekvala, u.a.; Produktion: Jeffrey Bell, u.a.

Harper’s Globe

USA 2009; Regie: Tony E. Valenzuela,u.a., Drehbuch: Miles Beckett, Jennifer Yale, Musik: Brandon Roberts, Kamera: Kevin Schlanser u.a., Schnitt: James Renfroe, Darsteller: Robin Matthews, Tommy Jeff Martin, David Loren, Josh Evans, u.a., Produktion: CBS, EQAL

Weiterführende Literatur:

Alby, Tom (2008): Web 2.0: Konzepte, Anwendungen, Technologien. München: Hanser.
Ebersbach, Anja/Glaser, Markus/Heigl, Richard (2008): Social Web. Konstanz: UVK.
www.cbs.com/primetime/harpers_island/
www.eqal.com
www.harpersglobe.com

Zitierte Literatur:

Wisker, Gina (2005): Horror Fiction. An introduction. New York: Continuum.
www.scifiwire.com

 

Text: Jennifer Borrmann (11.12.2010)

 


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