Ein Tag im Kino


Acht Uhr dreißig. Normalerweise würde ich jetzt zum ersten Mal übers Aufstehen nachdenken, doch hier auf der Berlinale bin ich schon seit zwei Stunden auf Achse. Schließlich muss man rechtzeitig beim Ticketschalter sein, um Plätze bei allen begehrten Vorstellungen zu bekommen. Geschafft, fünf Karten für morgen, jetzt kann heute beginnen. Erster Programmpunkt ist das Kinderfilmfest „Generation“, die Tram fährt in Richtung Zoo…

Ich hole mir einen Kaffee. Aus der Luft aufgenommen ergäbe die Szene ein lustiges Bild: ich (mit einem Pappbecher in der Hand) throne über hunderten umherwuselnden Schulkindern. Es wird ein langer Tag, deswegen wollte ich mich am Anfang nicht mit Autorenkino überfordern. Stattdessen läuft der neue „Lucky Luke“. Am Ende frage ich mich, was eigentlich lustiger ist: die von höchstens 2% der Zuschauer verstandenen Western-Parodien oder die super-kindgerechten Statements des französischen Regisseurs nach Filmende…?

Es geht zurück zum Berlinale-Palast. Nachdem wir zwei Sicherheitskontrollen passiert haben, sind wir jetzt nicht nur im prunkvollsten Kino des Festivals, sondern auch im fernen Japan angekommen, mit der Zeitmaschine geht es dann noch zurück in die Ära des Zweiten Weltkriegs: „Kabei“ ist ein Drama über die Heldenhaftigkeit einer Mutter, deren Mann wegen Kritik am faschistischen Regime verhaftet worden ist. Könnte von der Story her wohl auch eine Standardproduktion des deutschen Fernsehens laufen. Das japanische Fernsehen scheint allerdings andere Präferenzen zu haben. Nach dem Film spricht Regisseur Yôji Yamada von harschen Reaktionen in seiner Heimat, es lag wohl an der kritischen und offenen Darstellung der faschistischen Gesellschaft.

Wir verabschieden uns in den Abend: „La Rabia“ ist der anstrengendste Film heute. Es geht um Familienkonflikte im ländlichen Argentinien. Obwohl ich ziemlich müde bin, muss ich Albertina Carris Drama eine hohe emotionale Dichte und den Mut zu kargen wie drastischen Szenen zugute halten.

Nun führt die Reise nach Asien, allerdings mit der US-Army. „Standard Operating Procedure“ ist der brutalste und schockierendste Film für heute, was man daran merkt, dass die Zuschauerzahl während der Vorführung stetig abnimmt. Doch für alle die bleiben lohnt sich Errol Morris’ Dokumentation über die Hintergründe des Folterskandals in Abu Ghraib während des Irakkriegs. Zwar bringt der Regisseur auch die Positionen der folternden Soldaten zum Ausdruck, trotzdem ist der Film wie eine Reise ins so allzu westliche Herz der Finsternis. Nach der Logik der amerikanischen Armee müssen den Gefangenen mit allen Mitteln Informationen abgerungen werden und wie das passiert fasst dieser Film in eindrückliche Bilder. Diese sind aus praktischen Gründen zwar als Spielszenen inszeniert, beziehen sich aber allesamt auf die Aussagen aus den Interviews. Ein beeindruckender Film des USA-Kritikers Morris, der leider bis auf seine Auszeichnung mit dem Großen Preis der Jury später auf wenig Aufmerksamkeit bei den Kinozuschauern stieß.

Der zweite Wettbewerbsfilm läuft im selben Kino, was mich in den Genuss einer seit dem Morgen nicht mehr erlebten Tätigkeit bringt: Warten. Um halb zwölf kann es aber losgehen und schon die Eröffnungsszene von Mike Leighs „Happy-Go-Lucky“ vertreibt alle Müdigkeit. Der Witz und Esprit der später mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Hauptdarstellerin Sally Hawkins trägt die leichte Komödie – ein für den britischen Gesellschaftskritiker Leigh nicht wirklich typisches Genre – über die gesamten 118 Minuten. Die Handlung klingt unspektakulär: Es geht um die junge Lehrerin Poppy, die ihr Leben lebt – Flamenco-Kurs, Fahrschule mit dreißig, Ausgehen mit der Clique, einen netten Mann kennenlernen. Das Tolle ist, wie sie das macht und dabei den Missmut um sie herum mit ihrer rundum positiven Herangehensweise an alles und jeden einfach wegwischt. Am Anfang mag sie auch vielen etwas auf die Nerven gegangen sein, doch Poppy hat eben auch dass, was nötig ist, um die Herzen des Publikums zu erobern.

Ein Uhr fünfundvierzig, der Nachtbus bringt mich nach Hause. So läuft das also, wenn man den ganzen Tag im Kino sitzt! Sieben Filme, sieben Länder, drei Kontinente, fünf Genres, siebenmal von einer Welt in eine komplett andere. Der Kopf rattert und braucht noch Zeit, um das alles zu verarbeiten. Ist es am besten einen Film wie „Kabei“ zu drehen, der trotz seiner ganz banalen Geschichte provoziert? Oder sollte man die Zuschauer mit allen Mitteln aufrütteln und riskieren, dass sich überfordert fühlen, wie in „Standard Operating Procedure“? Liegt die wahre Kraft des Films in ganz privaten und nicht weniger bohrenden Familiengeschichten, wie „La Rabia“? Taugt Politik nur als Hintergrund für Paranoia generierende Spannungsthriller, wie „What no one knows“? Sind die Schönen aus Leipzig das beste Beispiel für eine gelungene Kombination aus persönlichem Porträt und historischer Auseinandersetzung? Oder sollte man den Ernst des Lebens im Kino hinter sich lassen, „Happy-Go-Lucky“ und „Lucky Luke“ anschauen und dabei ständig zwischen den Polen „happy“ und „lucky“ unterwegs sein?

Egal, ab ins Bett jetzt, in vier Stunden geht es wieder raus und ab zum Ticketschalter!

Text: Martin Koch, 07.03.2008 Berlinale’08

 

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