Bei der Geräuschkulisse, die ein Festival verursacht, erschienen mir immer die non-narrativen Filmwerke immer als große Erleichterung. Auch die Berlinale 2025 machte für mich keine Ausnahme. Einige dieser besonders hervorstechenden Filme, die nicht zuallererst ein Interesse daran haben, uns mit nicht spezifisch filmischen Formen der Kommunikation zu quälen, möchte ich in diesem Text besprechen. Und mich zum Schluss auch noch einmal an einigen Beispielen darüber auslassen, wie stark die Berlinale in diesem Jahr das Mittelmaß und die Verschwendung interessanter Prämissen zu ihrer Hauptaufgabe deklarierte. Die vorgenommenen Kürzungen machten sich eher in Details wie der Kürze von Q and As oder dem Verzicht auf die Bearbeitung des klassischen Berlinale-Spots für die verschiedenen Sektionen bemerkbar. Die Frage ist jedoch, ob das mit Joe Chialo und Kai Wegner in verantwortlicher Position in der Stadt Berlin sowie mit einer unionsgeführten Bundesregierung weiter so bleiben wird. Momentan sind die Nischen jedoch noch geöffnet bzw. das Programm für sie noch breit genug.
Zu den Höhepunkten des diesjährigen Festivals gehörten, in chronologischer Reihenfolge der Kinobesuche:
Paul von Denis Coté (Panorama):
Empathie-Kino mit adäquater Abgründigkeit in den Zwischentönen. Der Protagonist dieser Dokumentation hat eine höchst originelle Umgangsform mit den Traumata seines Lebens und seiner Depression gefunden. Er lässt sich von dominanten Frauen anheuern, um ihre Wohnung sauber zu machen und sich danach von ihnen in BDSM-Arrangements zu unterwerfen. Geduldig und möglichst wenig invasiv filmen Coté und seine Kameraleute die Gespräche zwischen Paul und den Frauen, seine Putzroutinen und die sadomasochistischen Rituale. Dabei geht es ihm viel weniger darum, einen Spannungsbogen zu konstruieren oder eine Entwicklung unseres Protagonisten von einem Zustand in den anderen zu schildern. Besonders humanistisch wird der Film dann, wenn er Blicke von Paul einfängt, in dem er sich nicht sicher zu sein scheint, ob er wirklich das richtige tut, wenn vielleicht aber auch die Depression ganz subtil wieder Einzug erhält, sich seines Ausdrucks ermächtigt. Dennoch verzichtet auf die Geste des „demaskierenden Blick“ hinter die Kulissen einer Instagram-Persönlichkeit, sondern lässt uns geduldig beobachten und unsere eigenen Schlüsse ziehen.
Their Eyes von Nicolas Gourault (Berlinale Shorts):
Auskünfte von Arbeitskräften über ihre Aufgabenbereiche und Alltagsstrukturen koppeln sich mit Animationen und Bildschirmaufnahmen, die sich als Wiedergänger von den gegenwärtigen Unternehmungen Harmony Korines gerieren. Their Eyes zeigt uns den Kapitalismus in seinen absurdesten Auswüchsen und macht gleichzeitig seine wachsenden Sollbruchstellen in seinen Bildern sichtbar. Die interviewten Menschen aus dem globalen Süden sollen selbstfahrenden Autos das Navigieren in Großstädten beibringen und müssen dafür auf Basis von Standbildern Objekte und Menschen bezeichnen. Besonders grotesk wird es dann, wenn ein Mann uns schildert und zeigt, wie er mit einem Admin eines Chats kommunziert, um herauszufinden, wie er eine Black-Lives-Matter-Demonstration einstufen soll. Letztendlich wird sie als Objekt klassifiziert, als anonyme Masse, auf die das Auto dann nicht weiter Rücksicht zu nehmen bräuchte, da es sich laut Programmierung nun nicht mehr um Menschen handelt.
Evidence von Lee Anne Schmitt (Forum):
Eine nüchterne Dekonstruktion der Entstehung und der Auswirkungen konservativer Diskurse. Zu Beginn filmt die Regisseurin Puppen, die von ihrem Vater von den Weltreisen für den Olin-Konzern mitgebracht wurden. Je mehr sie zur Firma von John Olin und den Geldflüssen recherchiert, desto mehr beginnt eine paranoide Heimsuchungsgeschichte, die immer wieder aus ihren Ausführungen, Buchstudien und historischen Rekapitulationen hervorklingt, aber vor allem aus den Bildern spricht. Ähnlich wie ihr Arbeitskollege James Benning arbeitet auch Schmitt mit unheimlichen Aufnahmen von ehemaligen oder noch aktiven Firmengeländen, die sich wie Photographien von Tatorten aus einer großen Distanz anfühlen. Genauso werden die Bücher zu Tatorten, die nach Spuren abgesucht werden. Immer wieder zeigt Schmitt, wie sich das Geld des konservativen Olin bis heute in den politischen Diskurs der USA einschreibt und das gegenwärtige soziale Klima erst hervorbringen und befeuern konnte. Rückständige Familienpolitik, Denunziation politischer Gegner und neoliberale Wirtschaftswissenschaft stehen auf der langen, aber trocken vorgetragenen Liste an Anklagepunkten. Ein Archiv-Monument gegen den Konservatismus der Gegenwart.
Satanische Sau von Rosa von Praunheim (Panorama):
Eine grandiose Parodie grassierender Autofiktion und künstlerischer Selbst-bespiegelung, der sich lustvoll in seine Billigkeit hineinlegt. Von Praunheim interviewt als unsichtbare Stimme aus dem Off den Schauspieler, der im Film sein Alter Ego im weitesten Sinne „verkörpert“. Statt noch einmal die Idee des leidenden Künstlers zu betonen, fährt Praunheim eine Kaskade kurioser Sex-Praktiken auf, gepaart mit Interviews verschiedener Darsteller, die aus ihrer Biographie erzählen und damit gar nicht erst ein Versenken in der Rolle als Möglichkeit gelten lassen. Bei allen diesen Facetten schafft es der Film trotz alledem noch etwas über den Nachhall der Aids-Krise und katholisch-repressiver Erziehung zu erzählen.
La Tour de Glace von Lucile Hadzihalilovic (Wettbewerb):
Auch im neuen Film der französischen Großmeisterin des rätselhaften Kinos spielen die visuellen Texturen, die durch Licht und Raumstrukturen erzeugt werden, eine entscheidende Rolle. Im Kino können Vergangenheit und Gegenwart, Licht und Schatten, Traum und indexikale Wirklichkeit problemlos nebeneinander und ineinander gefügt existieren. Hadzihalilovic denkt hier höchst produktiv und assoziationsreich über die Potentiale des Kinos nach, uns gleichzeitig zu befreien und gefangen zu nehmen. Unsere junge Protagonistin muss lange wandern und beobachten, bevor sie in einen Keller absteigt, um dort in einer surrealen Konstruktion auf einen laufenden Filmdreh zu stoßen, in den sie immer mehr verwickelt werden wird. Lesbisches Begehren, die Künstlichkeit des Apparates Kino, die Undurchdringlichkeit menschlicher Emotionen sind nur einige der Themen, die in den Bildern des Films mitschwingen, ohne sich plakativ offenzulegen. Ästhetizistisches Stimmungskino, das wäre als eine kleine Special Mention-Abspeisung wert gewesen wäre.
Reflet dans un diamant mort von Hélène Cattet und Bruno Forzani (Wettbewerb):
Die Macht des Genre-Kino, unsere Imagination zu überformen und zu seinen Gunsten zu formen, thematisieren das Regieduo Cattet/Forzani in ihrem überbordenden Feuerwerk filmischer Formspielereien. Voyeurismus-Versuche führen nur zu Flashbacks in eine Vergangenheit des Scheiterns und Versagens, jede Frau muss noch etwas im Schilde führen und zum Objekt eines Kriminalfalls gemacht werden, die Ermächtigungsgesten können nur als Angstfantasie verarbeitet werden. Wenn es schon Hommage-Kino geben muss, dann bitte mit diesem Höchstmaß an formalem Eigensinn, der hier an den Tag gelegt wird. Permanent können wir gerade durch den Einsatz desselbigen die Fantasien durchsteigen, die unseren Protagonisten dominieren und heimsuchen, uns von ihnen lossagen und stattdessen den Einfallsreichtum und die Assoziationsräume einzelner Bildketten genießen.
Lunch Break von Sharon Lockhart (Forum):
Vielleicht der vielschichtigste Einsatz von Kamerafahrten, Zeitlupe und Kadrierung, der ich jemals in einem Kino beiwohnen durfte. Gleichzeitig als ein subversiver Akt entgegen der kapitalistischen Arbeitswelt und eine Institutionsstudie sowie eine Ansammlung von Miniaturen menschlichen Verhaltens zu verstehen, versucht Sharon Lockhart, eine oft zu kurze Zeitperiode zu verlängern und nicht enden zu lassen. Die performative Zerlegung von Systemen der Wahrnehmung durch das Slow Cinema wird hier zu einem Höhepunkt gebracht, zu einem Akt des Widerstands und der Widerspenstigkeit gegen strukturelle Zwänge. Kinematographischer Arbeitskampf.
Comment ca va? von Caroline Poggi und Jonathan Vinel (Berlinale Shorts):
Eine Demonstration des ästhetischen Mehrwerts von kostenlos verfügbaren Animationsbildern als Kleinod vergangener Demokratisierungsfantasien zu Beginn des digitalen Zeitalters. Bewegungen, die nicht zur Landschaft passen, Gespräche, die nicht zur Erscheinung passen, das sind die entscheidenden Bestandteile von Poggis und Vinels Experimenten mit CGI. Eine hauntologische Provokation unserer Sehgewohnheiten, die Wände errichtet, wo wir sie niemals vermutet hätten, die selbstverständliche Bilder der Natur wieder unselbstverständlich macht und damit die korsischen Landschaften historisiert sowie politisiert. Eine Antwort auf die Frage, was Straub/Huillet gemacht hätten, wenn sie zum Einsatz von CGI gezwungen gewesen wären.
Eel von Chun-Teng Chu (Perspectives):
Das Leben in Armut in einer von der Moderne zurückgelassenen Landschaft thematisiert dieses taiwanesische Debüt. In einem Mash-Up aus Einflüssen wie Michelangelo Antonioni und Nagisa Oshima verfällt der gequälte Protagonist immer mehr seinen Vorstellungen von Weiblichkeit und dem Schlafwandeln. In seiner Sehnsucht nach einem Gegenüber verschwimmen die Grenzen zwischen Fantasie und Realität. In Armut ist die Liebe genauso brüchig wie die Konstruktion der Häuser, in denen unsere Figur gezwungen ist zu leben, die patriarchale Imagination noch schwerer zu bekämpfen. Eindrucksvolles und sinnliches Körperkino.
When the Sun is Eaten von Kevin Jerome Everson (Forum):
Das radikalste und vielschichtigste Werk des Festivals. Gerahmt durch die Untersicht eines Afro-Amerikaners von hinten, der in den hellen Himmel blickt, zeigt uns Everson die gleiche Sonnenfinsternis aus unterschiedlichen Koordinaten und lässt uns Unterschiede und Ähnlichkeiten wahrnehmen. Das Einfügen von Härchen an den Bildrändern, das Erscheinen und Verschwinden von Bildpixeln und leichte, aber merkbare Kamerawackler differenzieren die 3 Aufnahmen voneinander, Indexikalisches und Post-Produktion sind für uns nicht zu unterscheiden. Dass unsere Weltsicht auf unserer konkreten Verortung in der Welt basiert, dass unterschiedliche Räume unterschiedliche Sichtweisen produzieren, das führt uns Eversons Film eindrucksvoll vor Augen. Dass sich hier eine neue Weise zu sehen herausbilden soll, macht der Film auch dadurch deutlich, dass die Sonnenfinsternis selbst eine Ästhetik erzeugt, die an ein menschliches Auge erinnert, als würde uns das Kino selbst für einen Moment zurück anschauen und uns einen Einblick in das Besondere und Fremdartige gewähren.
What Does That Nature Say To You? von Hong Sang-Soo (Wettbewerb):
Ein Plädoyer für Empathie mit leidenden Künstlern bei gleichzeitiger Kritik derselbigen gelingt dem Vielfilmer Hong mit seinem neuesten Werk. Als ein junger Dichter eigentlich nur seine Freundin zuhause bei ihren Eltern absetzen möchte, wird er unwillentlich den Eltern vorgestellt und es entspinnen sich immer mehr längere Kaskaden aus Satz-Wiederholungen, indirekten Unhöflichkeiten und unangenehmen Situationen, die sich wie ein Autounfall in Zeitlupe ansehen lassen. Wie immer bei Hong wird getrunken und geredet, weil das Unterschwellige unterschwellig bleiben soll und doch nicht bleiben kann. Die selbstgewählte Armut des Protagonisten und seine schwindende Sicht verdoppeln sich in der digitalen Kamera, die von Unschärfe und Flirren gekennzeichnet ist, imperfekte Bilder produziert. Und ein altes Schrottauto zur Metapher für künstlerische Autonomie zu machen, kann auch nur in einem Hong-Film funktionieren, ohne unsympathisch zu wirken.
Nicht empfehlen von der 75. Berlinale kann ich die Filme, die sich nicht mit den Abgründen oder Implikationen ihrer Ausgangssituationen beschäftigen wollen. Gleich zwei Beispiele lassen sich finden, in denen die filmische Form viel zu handzahm erscheint, um sich den Prämissen wirklich eingehend zu widmen. Hot Milk von Rebecca Lenkiewicz versucht die Begleitung einer kranken Mutter durch ihre Tochter mit deren lesbischen Erwachen zu kombinieren, scheitert aber an seinem Unwillen, den Kitsch wirklich zu umarmen und das Melodrama eindrucksvoll zu übersteigern. Stattdessen finden sich einfallslose Inszenierungen von Polyamorie als Verunsicherungsmechanismus, endlose und insistente Dialogredundanzen, aber immerhin schöne Intimitätsszenen im Film wieder. Auch der Film Ato Noturno kann zwar mit einer interessanten Idee aufwarten (zwei Männer entdecken ihre Lust für den Sex in der Öffentlichkeit, obwohl einer von beiden ein hochrangiger Politiker ist), findet jedoch trotz schöner Ausleuchtung kein einziges spannendes Bild, um die Prämisse zu vertiefen. Und was der große Bela Tarr sich dabei gedacht hat, seinen Namen als Produzent auf einen banalen Studentenkurzfilm über Pferdetherapie mit exploitativen Darstellungen von Depression und Suizid zu setzen, das werden wir wohl nie erfahren und wollen es vielleicht auch gar nicht wissen. Große Fortschritte in den Werken einzelner Künstler und Künstlerinnen sowie für das Medium Film waren leider wenn überhaupt vereinzelt auf dieser Berlinale zu sehen, gerade die Sektion Perspectives hatte zwar wenig Schlechtes, aber auch vergleichsweise wenig Radikales, wirklich Zukunftsweisendes zu bieten. Und die Hollywood-Dramaturgie, dass die Bundestagswahl am letzten Tag der Berlinale stattfindet, das hätte ich mir wirklich sparen können, da so die Tagespolitik noch mehr als ohnehin schon das Festival unterwandert. Doch mit Tricia Tuttle könnte genau dieser Gang aus der Möglichkeits-Nische in den Determinismus Hollywoods im Berlinale-Programm wieder zunehmen. Wirklich großen Anlass zum Pessimismus gab es allerdings dafür erstmal nicht, da das Programm zumindest einige schöne Beiträge bereithielt.