Cannes 2023 #1: Spielarten des Alltags


In einer Welt, die ständig von außergewöhnlichen Ereignissen und überwältigenden Geschichten geprägt ist, ist es der Alltag, der uns alle miteinander verbindet. Albert Camus hat ihn deshalb als einen „stillen Helden“ bezeichnet. Gleichzeitig müssen wir uns bewusst machen, dass Unterschiede in Herkunft und wirtschaftlicher Stellung zu verschiedenen Alltagserfahrungen führen. Das Cannes Filmfestival 2023 rückte das Thema Alltag in den Fokus der Aufmerksamkeit und provozierte damit zu einer kritischen Reflexion. Glamour wurde mit der Realität des Alltags konfrontiert und es ist unvermeidlich, die Frage zu stellen, inwieweit dieser Glanz die Vielfalt und Komplexität des wirklichen Lebens widerspiegelt. Pervers ist es allemal, inmitten von Tausenden Filme zu schauen, die das elendige Leben von Menschen am anderen Ende der Welt darstellen, während wir in vollständig durchklimatisierten Räumen in bester Lage am Mittelmeer, zwischen Palmen und Luxushotels, Filme schauen.

Drei Filme wählen den Weg, den alltäglichen Kampf ums Überleben zum Fokuspunkt der Handlung zu machen. Sie alle verbindet der Gedanke, den Alltag dazu zu nutzen, um Aussagen über größere Themenkomplexe zu machen. Das Kleine wird so zur großen Bühne der Konflikte der Gegenwart. Ramata-Toulaye Sys Banel & Adama zeigt ein junges Paar im ländlichen Senegal, welches aus den traditionellen Dorfstrukturen ausbrechen will, indem es sich am Rande des Dorfs getrennt vom Rest der Gesellschaft alleine niederlässt. Banel ist eine junge Frau, die sich nicht in der ihr zugeordneten Geschlechterrolle zurechtfindet und es verweigert, Mutter zu werden. Ihr Fluchtversuch fällt aber mit dem Beginn einer Dürreperiode zusammen und sie werden dazu gezwungen, sich dem Dorf wieder anzupassen. Sys Alltagsdrama war der einzige Film im sonst hochbetagten Hauptwettbewerb um die Goldene Palme, welcher ein Erstlingswerk war. Gerade deshalb ist es umso unverständlicher, dass der Film in der übrigen Kritik eher nicht gut angekommen ist. Debutfilme müssen anders behandelt werden, denn sie sind ein erster Versuch. Banel und Adama ist ein Film, der sich wirklich Mühe gibt eine ganz eigene Bildsprache zu entwickeln und das zeichnet ihn gegenüber dem restlichen Wettbewerb aus.  Vielversprechend schildert Sy den Konflikt zwischen dem starren Festhalten an Tradition und Religion einerseits und dem Versuch einer individualistischen Loslösung aus der Gesellschaft andererseits. Beide Seiten scheinen ausweglos in ihrem Alltag verfangen. Während die Traditionalist*innnen im Dorf nur auf ihre Gebete gestützt darauf hoffen, dass sich die Situation verändert, ist es die lebensnahe Banel, die den Mythos missachtet und sich dadurch selber zu Tode bringt. Der Film stellt sich die Frage, was der Mensch in der Postmoderne überhaupt noch ist, wenn nicht nur ein Wesen aus Fleisch und Knochen, das zu einem beständigen Leiden verdammt ist. Man kann das für mystischen Kitsch halten, aber Sy produziert etwas viel Schlaueres. Im Endeffekt geht es ihr darum, darzustellen wie es ist, in einer Gesellschaft für Veränderung zu sein, die für Veränderung nicht bereit ist. Ihr gelingt so ein bildgewaltiges Klimadrama.

Der chinesische Dokumentarfilmer Wang Bing treibt diese Tendenzen auf die Spitze, indem er in Youth dreieinhalb Stunden lang das Leben von meist jugendlichen chinesischen Textilarbeiter*innen portraitiert, ohne jemals einen narrativen Rahmen zu geben, der nicht vom Leben selbst gegeben wurde. In Youth findet sich nichts Hinzugefügtes, keine Szenen die nachgestellt wurden. Als stille Beobachter stehen wir neben den Arbeiter*innen und blicken in alle Momente ihres Lebens. Frühstück, wochenlange Gehaltsverhandlungen, 10-minütige Close-Ups von einer Person die Hosen produziert. Das klingt ziemlich stumpf, aber dennoch findet sich hier alles, was es auch in einem herkömmlichen Spielfilm gibt. Unsere Held*innen sind die Arbeiter*innen und die Bösewichte die Fabrikbesitzer. Es entstehen Liebesgeschichten, Menschen werden schwanger und wechseln den Arbeitsplatz. Wang Bing fetischisiert so das menschliche Leben zur Ikone des Films. Über eine Periode von fünf Jahren gedreht passiert hier nichts Aufsehenerregendes und doch so viel. Die zurückhaltende Kameraführung passt sich perfekt in ihre Umgebung ein und scheint bis ins kleinste Detail durchplant zu sein. Während der gesamten Handlung verlassen wir die langen Gänge der Arbeiter*innensiedlung, welche gleichzeitig auch die Fabrik ist, nur selten. Unsere Charaktere wirken darum umso eingefangener in dieser Welt, die sie ernährt. Nur zweimal sehen wir überhaupt Grünpflanzen. Aber warum muss das Ganze dreieinhalb Stunden lang sein? Youth ist tatsächlich einer der kürzeren Filme von Wang Bing, der auch schon sieben- oder achtstündige Werke gedreht hat. In der ständigen Wiederholung scheint es ihm darum zu gehen, die unendliche Ausweglosigkeit des Lebens an der Peripherie der chinesischen Gesellschaft zu verdeutlichen. Er erstellt so eine Gegenerzählung zum Narrativ des chinesischen Aufstiegs, welcher Millionen von Menschen zum Wohlstand gebracht haben soll.

Ein anderer kleiner Film spinnt diese Fragen weiter: Mambar Pierrette. Die Titelgebende Pierrette ist eine Näherin in Kamerun. Wir begleiten sie, wie in Youth, bei ihrer alltäglichen Arbeit mit all den Fehlschlägen, die diese mit sich bringt. Mambar Pierrette ist hingegen aber ein Spielfilm, in dem sich alle Charaktere selber spielen. Pierrette ist im echten Leben Näherin und die Drehorte des Films ihre echte Wohnung und Werkstatt. Der Film bekommt so eine eigene Dringlichkeit, welche die Regisseurin Rosine Mbakam als Reflektion ihres eigenen Lebens versteht. Als Dokumentarfilmerin entscheid sie sich für einen Spielfilm, da sie in diesem Medium die bessere Möglichkeit zu Verwirklichung ihrer eigenen Erfahrung sah. Anstoßpunkt für die Produktion war die Erfahrung von täglicher sexueller Gewalt gegen Frauen, welche Mbakam in ihrer Heimat mitbekam und welche auch sie treffen sollte. So entstand ein Film, den man gerne noch eine Stunde länger gesehen hätte und gerade wegen seiner Kürze gegenüber Youth so anders wirkt. Wang Bing lässt einen gerade wegen seiner Filmlänge nicht mehr los, während Pierrette dann doch irgendwann zu Ende geht.

Während sich die  gerade beschriebenen Filme alle dem Elend zuwenden, tut Wim Wenders mit Perfect Days das Gegenteil. Wir folgen dem Leben des Toilettenputzers Hirayama in Tokio, der, brillant gespielt von Koji Yakusho, einem penibel durchgeplanten Wochenablauf folgt. Morgens wird aufgestanden, das Bett weggeräumt, die Blumen gegossen und sich am Automaten vor dem Haus eine Kaffeedose gekauft. Auf dem Weg zur Arbeit wird jeden Tag eine andere Rock- oder Blueskassette gehört. Der Mittag wird immer im selben Park verbracht, genauso wie der Abend im selben Schnellrestaurant ausklingt. In diesem Alltag fühlt sich Hirayama aber wider Erwarten sehr wohl. Wim Wenders will so einen Gegenerzählung zur kapitalistischen Ellenbogengesellschaft abliefern, die ihm aber nicht so richtig gelingen will. Für uns, wie für alle anderen Charaktere des Films auch, führt Hirayama wortwörtlich einen Scheißjob aus, doch ihm ist das egal. Für ihn sind das die perfekten Tage, welche er nur verleben kann, weil ihm die üblichen kapitalistischen Ideale am Arsch vorbeigehen. Der Film portraitiert zwar auch einige der Schattenseiten von Hirayamas Dasein, zeigt sich aber durchaus optimistisch für ein gelingendes Leben in der Wettbewerbsgesellschaft durch einen individuellen Entzug aus ihr. Das Ganze bedeutet zwar auf jeden Fall viel Verzicht, was sich so – Achtung Spoiler – in der letzten Szene des Films zeigt. In einer langen Einstellung sehen wir das Gesicht des autofahrenden Hirayamas, der nicht ganz recht weiß ob er lachen oder weinen soll. So ambivalent bleibt auch Wenders Haltung gegenüber seinem Charakter, dessen Existenz nie gänzlich positiv herüberkommt. Aber vielleicht ist es auch das, was Wenders damit transportieren will: es gibt keine einfache Formel für das Glück. Das Leben hat seine Höhen und Tiefen, Wenders zu Folge kommt es aber wesentlich darauf an, welche persönliche Einstellung wir gegenüber den Ereignissen einnehmen. Am Ende bleibt man an der Frage hängen, wie die Handlung nach Filmende weitergehen wird. Hirayama hat teilweise nicht genug Geld, um sich Benzin für sein Auto zu leisten, welches er für seine Arbeit benötigt. Was wird passieren, wenn es kaputt gehen wird? Das sind Fragen die sich Wenders nicht stellt und die er sich stellen müsste, um seinem Film mehr Tiefgang zu verleihen. Perfect Days ist ein gutgemeinter Feelgood-Film, bei dem man sich am Ende gar nicht so richtig wohlfühlen kann und will.

Jeden Tag passieren eben auch die schlechten Dinge und der Höhepunkt der Perversion ist deren Normalisierung. Das besondere an Filmen wie Youth ist, dass sie das alltägliche hervorheben, es dadurch hinterfragen und so das schlimme in ihm zutage fördern. Warum darf solches Elend überhaupt geschehen und das sogar millionenfach reproduziert?  Diese Frage stellt sich The Zone of Interest von Jonathan Glazer in Bezug auf das Thema Holocaust, indem er sich total auf den Alltag fokussiert. Der Film widmet sich der Familie Höß, der Familie des  Kommandanten  des Vernichtungslager Auschwitz. Als distanzierte Beobachter*innen betrachten wir die Täter von außen im Vollzug ihres Alltags direkt neben den Lagermauern, der ihr Gartenzaun ist. Visuell transportiert Glazer seine Gedanken, indem er im Haus an verschiedenen Stellen fernsteuerbare Überwachungskameras installierte und wir nie eine Nahaufnahme der Charaktere sehen, somit immer ein Stück von ihnen entrückt bleiben. Kein einziges Mal sehen wir in diesem Film den Holocaust direkt, er ist aber ständig als Hintergrundgeräusch präsent durch die Schüsse und Schreie, die vom Lager herüberwehen. Die Familie Höß hat sich an diesem Ort ihre perfekte kleine Idylle mit gradlinig parzelliertem Garten und Plantschbecken angelegt. Man mag dazu geneigt sein, dem Film vorzuwerfen, dass er Nationalsozialist*innen humanisiere und hat damit genau seine Absicht getroffen. Hatte man Hannah Arendt mit ihrer Formulierung der Banalität des Bösens noch vorgeworfen, den Holocaust zu relativieren, indem sie die Täter normalisiere, so funktioniert das bei Glazer nicht mehr vollständig. Nicht das Böse ist banal, wie der plumpe (ANMERKUNG: das Wort ist irritierend und trifft m.E. nicht auf ihn zu, eher nüchtern oder pedantisch) Adolf Eichmann Hannah Arendts, sondern das Banale und Alltägliche ist eben wegen seiner Banalität böse. Nur Menschen konnten Menschen solches Leid zufügen und das ist die eigentliche Tragödie. The Zone of Interest ist deswegen einzigartig innovativ und absolut sehenswert.

In der Normalität von Cannes spiegelte sich für uns Zuschauende unsere eigene Perversion wider. Wir, die dasitzen und dieses Spektakel betrachten, sind eigentlich Nutznießer*innen des Leids, welches für uns zur bloßen Unterhaltung wird. Die typischen Filme des diesjährigen Festivals in Cannes  sind politisch, eher links und pessimistisch –  das Ganze eine ziemlich privilegierte Angelegenheit. Da kann man sich nicht herausreden. Bald wird das ganze Tamtam auch auf den heimischen Kinoleinwänden und über Streamingdienste verfügbar sein. Dabei kann man nur hoffen, dass auch die unbekannteren Produktionen wie Banel & Adama oder Youth den Sprung nach Deutschland schaffen.

Von Béla Hubenstorf


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