Ein Festivalbericht von Jan Erik.
Wie viel Einfluss nimmt die Festival-Erfahrung auf die Art und Weise, wie die Anwesenden die projizierten Filme wahrnehmen können? Man ist dazu angehalten, sich feste Pläne zu konstruieren, wann man welche Filme sehen kann. Da der Tag nur 24 Stunden enthält, von denen man etwa 16 Stunden wach ist, folgen diese Filme häufig in hoher zeitlicher Dichte aufeinander. Versorgungsplanungen und organisatorische Dinge in Bezug auf die eigene Unterkunft können sich dazwischenschieben. Gerade wenn man ein Festival an einem Ort besucht, an dem man sich zunächst zurechtfinden muss, dürfte es sicherlich nicht unbedingt leichtfallen, die äußeren Umstände auszublenden. Die Filme, die man sieht, müssten sich in diesem Fall nicht nur gegenseitig überlappen, sondern über ihre gesamte Rezeptionsdauer von Gedanken überlagert sein, die den weiteren Tagesverlauf betreffen. Es scheint so, als würde die Festival-Erfahrung vor allem daraus bestehen, die Filme zu ermitteln, die einen kurzfristigen, aber vielleicht aber darüber hinaus hängenbleibenden Keil in die ständige Transit-Bewegung treiben und diese nicht nur fortsetzen. Vielleicht wird man damit einigen Filmen unrecht tun, die einfach den falschen Zeitpunkt erwischt, um von einem selbst betrachtet zu werden. Aber vielleicht kann man mit dieser Herangehensweise zumindest sicherstellen, dass man gerade die Filme hervorheben wird, die das Kino voranbringen, über Bestehendes hinausgehen und das kollektive Medien-und Filmgedächtnis der Gegenwart in neue Richtungen wenden wollen.
Manchmal stößt man aber auch auf Fälle, bei denen die äußeren Umstände das Vorhaben des Films, den man gerade schaut, besonders begünstigen. Wenn endlich die eigene Übernachtungssituation für die nächsten Tage geklärt ist unter einem klaren Abendhimmel am Strand in einem tief absinkenden Liegestuhl Wong Kar-Wais In The Mood For Love zu schauen, gehört definitiv dazu. Vor allem, da man es hier mit einem Film zu tun hat, der eine Versenkung in seine ästhetischen Mechanismen vom Publikum erreichen möchte. Innerhalb der bereits beschriebenen Transit-Erfahrung eines Festivals hat es etwas enorm Schönes, einen Film zu sehen, der sich durch seine Zeitlupen der beiden Hauptfiguren daran versucht, das unvermeidliche Ende ihres romantischen Verhältnisses soweit es geht hinauszuzögern und durch die Bewegungen seiner Kamera Wände überwindet, die die Figuren voneinander trennen. In The Mood For Love lässt die beiden Hauptfiguren ein Schauspiel durchführen, dass eine bessere, zwischenmenschliche Wirklichkeit vorstellbar macht, jedoch ihre Unmöglichkeit und imaginative Flüchtigkeit ständig mitlaufen lässt. So wie die beiden Figuren zeitlich und gesellschaftlich bedingt nicht in ihrer durch subtile Anziehung geprägten Vorstellungswelt bleiben kann, muss man auch selbst letztendlich das Strandkino gemeinsam mit dem Rest des Publikums wieder verlassen. Aber immerhin tut man es mit bleibenden Bildern und dem wiederkehrenden, walzerähnlichen Musikstück von Shigeru Umebayashi im Ohr. Gerade wenn man direkt danach auf dem Rückweg über das Festivalgelände noch in das eher elitär daherkommende Publikum der abendlichen Festivaleröffnung hineinläuft, kommt man sich auf angenehme Weise fremd vor.
Dieser Eindruck verstärkt sich auch noch, wenn man sich vor Augen ruft, dass man höchstwahrscheinlich zur gleichen Zeit des spannenderen und wagemutigeren Film gesehen hat als das Publikum, das gerade aus dem Eröffnungsfilm Anette von Leos Carax hinausschlendert. Denn bis auf die schwungvolle Auftaktszene, in der das Schauspiel-Personal in einer langen Kamerafahrt sich aus einem Tonstudio hinausbewegen und schließlich in die eigenen Rollen abfahren darf bzw. gewissermaßen auf Position gebracht wird, ist hier weder thematisch noch ästhetisch sehr viel zu holen. Auf der Musical-Ebene macht der Film nichts wirklich Neues, Spiele mit der Künstlichkeit der eigenen Bilder oder dramaturgische Meta-Spielereien über die Unterhaltungsindustrie gab es bereits im Musical-Film der 40er und 50er-Jahre. In seiner Aufarbeitung von männlicher Gewalt und weiblicher Emanzipation kommt der Film nie darüber hinaus, die Themen in den Raum zu stellen oder sie in leidiges, Charlie-Kaufman-Innerlichkeitskino zu verwandeln.
Apropo Themen einfach in den Raum stellen: Der neue Film von Nadev Lapid Haberech bzw. Aheds Knee wurde am Nachmittag des zweiten Tages im Grand Lumiere-Kino gezeigt. Nach Anette freut man sich zwar einerseits über die verspielten Bewegungen der Kamera, die immer wieder reizvoll zwischen Präzision und Beschleunigung changieren, jedoch weniger über die für die Intensitätsbehauptung eingefügten extremen Nahaufnahmen eines frustrierten Künstlers, der zwar wütend, aber unscharf und vage über politische Einschränkungen der Kunst in Israel lamentieren darf. Der Film belegt aber auch, dass es gerade die staatlichen Institutionen sind, die von der über die Filme immer wieder aufflackernden Autoritätskritik getroffen werden sollen. Auch das Militär und die Auswirkungen seiner autoritären Rituale werden in einer längeren Flashback-Sequenz vor Augen geführt, aber auch hier ohne, dass die Intensität und die körperliche Affizierung über die Behauptung hinaus gehen.
Die Verbindung von Autoritätskritik und Körperkino spielt auch für die Konstruktion von Onoda von Arthur Harari eine zentrale Rolle, der die Sektion Un Certain Regard eröffnen durfte. Weniger als die Frage, wie die zentralen Individuen der Dramaturgie die autoritären Strukturen navigieren, steht hier jedoch eine Figur im Mittelpunkt, die vollkommen von der Kriegs-Ideologie subsumiert wurde und kaum noch in der Lage zu sein scheint, aus ihr heraus zu treten. Der Soldat Onoda ist vollkommen Produkt seiner äußeren Umstände. Obwohl der Krieg bereits vorbei ist, geht er für ihn nicht zu Ende, er verweigert sich explizit gegenteiligen Behauptungen und Hinweisen. Wieder die Frage nach der Prägung der eigenen Perspektive durch die Strukturen, die um einen herum bestehen. Daneben kommt aber mir auch inzwischen die Frage auf, ob man neben dem Oscar-Film auch von einem Cannes-Film sprechen könnte, so ähnlich wie die Filme hier teilweise erscheinen. Viel statische Kamera, viel Themenkino, Fokus auf Momente der Intensität und der Körperlichkeit. Oder sind das wieder nur die speziellen äußeren Umstände, die diese Frage aufkommen lassen?
Und länger darüber nachdenken zu können, sitzt man um halb 11 schon im letzten Film des Tages und stellt sich ernsthaft die viel alltäglichere Frage, ob man das noch überhaupt noch physisch durchhalten kann. Zum Glück wird es einem da recht leicht gemacht, wenn man sich in die Cannes-Classics-Sektion verirrt hat und Demon Pond von Masuhiro Shinoda aus der Japanischen Neuen Welle angucken kann. Am Ehesten eine Mischung aus Kabuki-Theater, Kostüm-Film und Horrorfilm, in der das Verhältnis aus Außenseiter-Gruppierungen und einer Dorfgemeinschaft die zentrale politische Frage zu sein scheint. Sicherlich erschließt sich nicht jedes Element des Filmes auf den ersten Blick, da hier auch immer wieder Szenen inszeniert werden, die sich auf kulturspezifische Folklore beziehen. Aber wenn man davon überzeugt ist, dass das Kino auch ein Ort sein sollte, in dem einem das begreiflich werden kann, was einem fremd vorkommt oder rätselhaft erscheint, dann bereitet so eine Abendvorstellung eines surrealistischen Films sicherlich Freude. Und dadurch, dass auch das Wasser als unberechenbare Tiefe hier eine Rolle zu spielen scheint, bekommt man es hier über eine längere Zeit zu sehen als draußen an der Küste Cannes. Dort hat man keine Zeit, aufs Meer zu schauen, man muss ja schon in die nächste Schlange, schnell zum Imbiss oder zum letzten Bus, der einen wieder ins Hotel bringt.
Nächster Tag, nächster Themenfilm. Große Freiheit von Sebastian Meise strukturiert sich aus drei Zeitebenen, die jeweils einen Gefängnisaufenthalt des von Franz Rogowski gespielten Hauptprotagonisten beinhalten, der wegen seiner Homosexualität auf Basis von Paragraph 175 verurteilt wurde. Kommt dieser Film über die Nennung seines Themas hinaus? Es ist durchaus streitbar, ob der Film die Gefangenschaft der Figur durch seine Ästhetik reproduziert oder infrage stellt. Oder sie vielleicht durch ihre Reproduktion in einer filmischen Form erst verdeutlicht und das Publikum befähigt, sie zu erkennen? Zumindest hebt der Film durch formale Entscheidungen, die die Zeitwahrnehmung des Publikums von der seiner Hauptfigur trennen hervor, dass für ihn weder der Regimewechsel nach dem 2. Weltkrieg noch das Vergehen von Zeit an sich konkrete Veränderungen mit sich bringen. Bei den Zeitsprüngen, die für uns sichtbar als Text eingeblendet werden, achtet der Film häufig darauf, seine Hauptfigur am exakt gleichen Ort, in der gleichen Situation zu zeigen. Hans Hoffmann ist systemisch dazu gezwungen, sich in kleinste Nischen zurückzuziehen, in denen es noch möglich ist, das eigene Begehren auszuagieren. Der Titel scheint dabei fast ironisch zu sein, da er eine Figur dabei verfolgt, wie ihr die Möglichkeiten abhandenkommen, überhaupt eine Vorstellung von Freiheit herauszubilden. Etwas, das im Kino jedoch immer wieder möglich wird, auch wenn es strukturell einem Gefängnisapparat gar nicht einmal so unähnlich ist.
Auch der zweite Besuch in der Cannes-Classics-Sektion endet mit einem Freiheitsbild. Nach zahlreichen Episoden, in denen das Zusammenleben der Jünger von Franz von Assisi und ihre Taten geschildert wurden, trennt sich die Gruppe und wandert in alle Himmelsrichtungen ab, während die Kamera sich über sie erhebt und einen Blick auf die Landschaft und den Himmel ermöglicht. Die Individuen, die die spezielle Gemeinschaftserfahrung in sich tragen, wollen diese nun an die Welt vermitteln, die wir hier nicht explizit zu sehen bekommen. Man muss The Flowers of St. Francis von Roberto Rossellini bei der Überhöhung des Glaubens als friedensstiftende Kraft und seinem ländlichen Pathos nicht unbedingt Folge leisten, sollte den Film aber als politisches Nachkriegskino, das Fragen nach neuen Figurationen des Verhältnisses von Individuen und Gemeinschaft aufwirft, durchaus ernst nehmen. Auch deswegen, um vielleicht nicht direkt wieder dazu überzugehen, das Kino als Kirche und sakralen Ort zu beschreiben.
Im weiteren Verlauf des zweiten Tages stellen sich leider 2 von 3 gesehenen Film als wenig besprechenswert heraus. Sowohl Lingui von Mohamed Salah-Haroun, ein Abtreibungsdrama, das nur sehr geringfügig über die „Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben, schon schlimm dort, jetzt lass uns Cocktails trinken“-Ästhetik von Teilen des Festivalkinos hinauskommt, als auch der biographisch gefärbte Essayfilm Flickering Ghost of Love Gone By von Andre Bonzel, der dem Publikum nicht mehr als die Wiederholung von Floskeln über die Magie des Kinos als Erinnerungsraum, dem man nie ganz vertrauen kann, entlocken dürfte, stellten sich als anstrengend konventionell heraus. Vielleicht hat das aber auch mit der eigenen problematischen Erinnerung zusammen, die so ein Festival-Modus mit sich bringen kann. Während sich im Familiendrama und im Essay-Film also wenig zu bewegen scheint, bringt After Yang von Kogonada interessante Reflektionsoptionen in das Science-Fiction-Kino. Der Film kombiniert die Analyse äußerer Gesichtspunkte, in diesem Fall der architektonischen Konstruktion der Wohn-, Stadt- und Naturräume im Zusammenhang, mit der dramaturgisch verhandelten Frage, wie der allgemeine technische Fortschritt und seine Ausdrucksformen die Strukturen persönlicher Erinnerung transformieren. Während der Film auf seiner formal-analytischen Ebene über statische Totalen zu dem Ergebnis kommt, dass die Räume der Zukunft sowohl von verstärkter Abstraktion und Minimalismus sowie einer merkwürdigen Spannung aus Transparenz und Diffusität bzw. Undurchschaubarkeit gekennzeichnet werden, sind für die Erinnerungsfragen vor allem die Szenen aufschlussreich, in der Colin Farrells Vaterfigur den Erinnerungskatalog des vielleicht irreparabel beschädigten Hausroboters Yang durchsucht. Dieser besteht aus Videosplittern mit nur wenigen Sekunden Lauflänge, die insignifikant wirkenden Aufnahmen von kleinen Gesten und Naturbildern bestehen. Die virtuelle Kamera fliegt zwischen den unterschiedlichen, gleichwertig nebeneinander und hintereinander stehenden Erinnerungskacheln hin und her, ohne dass Farrell sie aktiv auszuwählen scheint. Der technische Fortschritt fragmentiert die Erinnerung in immer kleinere Teile und verändert gleichzeitig die Auffassung dessen, was wir im Alltag als signifikant und insignifikant betrachten. Damit scheint dem Film zufolge auch die Gefahr verbunden, sich immer weiter ausschließlich in der eigenen Subjektiven zu verlieren. Auf jeden Fall lässt sich feststellen, dass wir es mit einem Film zu tun haben, der selbst hochrangigste Medienanalyse unternimmt und sie verständlich zu vermitteln weiß.
Tag 3, nach 5 Filmen am gestrigen Tag scheint es doch angemessen, sich ein wenig zurückzunehmen. 3 Filme am Tag müssen doch auch mal genügen. Delo bzw. House Arrest von Alexej German Jr. ist dann als Start in den Tag nicht sonderlich motivierend, wieder Schauspielerkino mit einem zeitgenössischen politischen Thema, das sich aber in einem anderen Land abspielt und somit für das Publikum auf angenehme Art weit entfernt wirken muss. Immerhin wirkt die Schlussgeste des Films doch sympathisch in der Art und Weise, wie der dissidentische Professor sein Haus wieder verlassen darf, dass immer stärker vom Nebel eingehüllt ist.
Da wirkt H6 von Yé Yé schon deutlich schärfer. Der Film wirft als Dokumentarfilm-Spielfilm-Hybrid einen Blick darauf, welche Konsequenzen kapitalistische Prinzipien auf das chinesische Gesundheitssystem entfalten. Die Kamera begleitet in einer losen Form der Netzwerk-Erzählung mehrere Figuren dabei, wie sie als Betroffene das System navigieren müssen und ständig vor die Geld-Frage gestellt werden. Der Mosaik-Film, der das Publikum auch darüber nachdenken lässt, wie er überhaupt entstanden sein könnte, versucht sich auch daran, in Zwischensequenzen zu zeigen, wie der Alltag im Krankenhaus einen routinierten Rhythmus bekommt, der die Institution in ihrer gegenwärtigen Form am Laufen hält. Auch die Tänzer in der Schlussszene, die sich im öffentlichen Raum rundum das Krankenhaus aufhalten, belegen das Interesse des Film am Rhythmus und der Choreographie, die aus den dokumentarisch wirkenden Aufnahmen der Angehörigen im Krankenhaus nicht von selbst hervortreten.
Wie stark auch das Festival in Cannes von eingespielten und unverrückbar wirkenden Choreographien geprägt ist, zeigt sich spätestens dann, wenn man eine der großen Weltpremieren im Grand Lumiere besucht, zu denen Abendkleidung benötigt wird und man länger als sonst auf die Ticket-Bestätigung warten muss. Mehr dann je stellt sich dort die Frage, inwiefern das Festival hier bereits nicht nur den Filmstars, sondern vor allem einer besonders wohlgesonnenen Rezeption des Films durch das anwesende Publikum den roten Teppich ausrollt, inwiefern die Rezeption durch die äußeren Umstände in planbare Bahnen gelenkt wird. Im Fall von Benedetta von Paul Verhoeven (der unter den ganzen alten, weißen Männern überhaupt nicht auffallen würde) stellt sich diese Frage auch auf der Ebene, inwiefern das Festival auch seine transgressiven Potentiale absichtlich einkalkuliert, die Presse zum ebenfalls choreographisch vorgefertigten Skandalisieren des Films einzuladen. Und nichtsdestotrotz erscheint der Film enorm lohnenswert und vielschichtig, wenn man sich in eine ernsthafte Diskussion begibt. Vieles wäre hier zu nennen, u.a. dass die Hauptfigur ihren Aufstieg in der katholischen Kirche sowohl durch den Realitätseffekt körperlicher Gewalt, der für das Exploitationkino grundlegend ist, aber auch dadurch bewerkstelligt, dass sie solange von den führenden Persönlichkeiten toleriert wird, in der aus ihr ein Profit geschlagen werden kann. Eine weitere Leistung des Films scheint ebenfalls darin zu bestehen, Glaube und Sexualität als zusammenhängende Größen erscheinen zu lassen bzw. zumindest als Bereiche, die man nicht unbedingt voneinander getrennt denken muss. Der Film verpackt diesen Diskussionsanstoß in eine provokative Ummodellierung einer Holzfigur der Jungfrau Maria in ein Sexspielzeug, das in der lesbischen Beziehung zwischen Benedetta und einer vor ihrem gewalttätigen Vater ins Kloster geflüchteten Nonne Verwendung findet. Wohltuend wirkt zudem das Ende des Films, bei dem sich die Hauptfigur untypisch für das Gegenwartskino, dass das Verhältnis zwischen dem Politischen und dem Persönlichen aushandelt, doch für das Politische entscheiden darf. Die visuelle Schlussgeste des Films ist dabei den letzten Momenten von The Flowers of St. Francis sehr ähnlich. Und hier kann man sich recht sicher sein, dass man das nicht nur deswegen so sehen kann, weil man den anderen Film erst am Tag zuvor gesehen hat und ihn deshalb noch präsent hat.
Nach dem Film erfährt man in einer Mail dann davon, dass das 3-Tage-Programm bis zum Ende des Festivals verlängert wurde. Laut des Festivals würde man das vor allem aufgrund von vielen Nachfragen tun, es ist aber eher zu vermuten, dass man keine Bilder von leeren Kinosälen an die Öffentlichkeit weitergeben möchte. Nur wenn das Geld nicht da ist und nächste Woche wieder Arbeit ansteht, ist das leider so spontan nur schwer zu bewerkstelligen. In so einem Fall ist es nicht möglich, dem Cannes-Filmfestival diesen Gefallen zu tun. Zumindest kann man aber, wenn ein Kino direkt neben dem eigenen Hotel liegt, noch spontan am Abreisetag zwei Filme schauen. Da kann man dann auch verschmerzen, wenn sie eher mittelmäßig bis fast unerträglich sind. Where is Anne Frank? von Ari Folman fällt eher in die erstere Kategorie. Das liegt vor allem an der sehr konsenspolitischen Umgangsweise des Films mit dem Nationalsozialismus und seiner Hauptfigur Anne Frank. Teilweise wirkt der Film leider wie ein konsumierbarer Werbefilm für das berühmte Museum in Amsterdam. Während die Nationalsozialisten wie eine Armee aus überdimensionalen Dämonen inszeniert und damit gleichzeitig doch wieder banalisiert werden, geht die Charakterisierung von Anne Frank kaum darüber hinaus, dass sie doch eine „ganz normaler Teenagerin“ war, die Bilder von Stars bei sich im Zimmer hängen hat. Auch der Versuch des Films, auf seiner Gegenwartsebene Migrationspolitik zu thematisieren, ist zwar politisch sicherlich nicht unbedingt von der Hand zu weisen. Doch nur wenige Momente des Films gehen wirklich über Rührseligkeits-Animationskino hinaus, dass das Schicksal von Anne Frank doch eher arg verkitscht. Berührend ist es dennoch zumindest, wenn ihre imaginäre Freundin, die ihrem Tagebuch entsteigt, herausfinden muss, wie musealisiert der Name ihrer Freundin bereits geworden ist und dass sie schon lange tot ist.
An dieser Stelle sollte eigentlich noch etwas zu La Civil kommen, aber der Film ist so ein so konventioneller und vergessbarer Rachefilm, dass er doch kaum der Rede wert scheint. Da ist es deutlich aufregender noch zu erwähnen, dass man bei der Grenzkontrolle auf der Rückfahrt auch dann durchsucht werden kann, wenn der Spürhund irrtümlich den eigenen Koffer als Stätte für Drogenschmuggel identifiziert. In solchen Momenten könnte man fast daran glauben, dass sich diese Begegnungen mit den Kontrollinstanzen schon darin angedeutet hat, dass man sich auf dem Festival-Gelände ständig an gepanzerten Soldaten mit Maschinengewehren in der Hand vorbei bewegen musste. Diese Momente ändern jedoch nichts am Gesamteindruck, dass das Festival selbst (zumindest in diesem Jahr, man hört ja sonst Gegenteiliges) nicht zu den beschwerlichen navigierbaren Strukturen und Institutionen gehört, obwohl es sich im Vorfeld so gerieren mag. Man darf auch darauf gespannt sein, ob die Organisatoren in diesem Jahr dazu gelernt haben und das praktische und einfache Online-Ticketsystem beibehalten, um eine einfachere Zugänglichkeit zu gewährleisten, auch wenn das die Hierarchien in der Festival-Gesellschaft höchstens aufweichen, aber nicht vollkommen auflösen würde.