Cannes 2018 Roundup


Auch dieses Jahr haben sich wieder ein paar Akanauten aufgemacht ins mythenumwobene Cannes um der Filmkunst zu huldigen. Todesmutig haben wir pains au chocolat und Baguettes an schwerbewaffneten Soldaten und smokingbewehrten Securityleuten vorbei in Kinosäle hineingeschmuggelt, um so auch nach extrem kurzen Nächten auf dem Campingplatz in morgendlichen Frühvorstellungen durchzuhalten. Derart gestärkt haben wir uns einige Filme zu Gemüte geführt, sodass wir hier mit euch ein paar Eindrücke und Gedanken teilen wollen. Im Folgenden findet ihr eine Reihe von kurzen und extrem kurzen Filmbesprechungen und Notizen, die meist direkt nach dem jeweiligen Film entstanden sind. Zunächst erstmal meine Impressionen, später gibt auch Elmar noch seinen Senf dazu.

Achtung: Manche der Texte enthalten leichte Spoiler. Wo es meiner Meinung nach nötig ist, habe ich eine Warnung hinter dem Titel eingefügt. Bei soviel  hoher Kultur hat uns zudem irgendwann die Reaktanz gepackt und wir mussten mit niederen Cannes-Wortspielen entgegenhalten. Das schlägt sich auch mal im Text nieder, kann man nix machen.

 

The House That Jack Built 10 / 10

Eine Geschichte über den Massenmörder Jack, der seine Taten einer zunächst unbekannten Stimme in fünf Akten schildert.‎ Der Regisseur zeigt dabei Gewaltszenen von im Arthauskino bislang kaum gesehener Brutalität und Drastik, die die explizite Warnung auf der Kinokarte absolut rechtfertigen und  immer wieder Leute aufstehen lassen. Während des Films stellt der Protagonist  Bezüge zu Kunst her, als die er seine Taten ansieht (was von seinem Gesprächspartner zusehends gereizter in Frage gestellt wird). Am Ende des Films wird Jack vor eine verlockende Wahl gestellt: will er versuchen über den Abgrund der Hölle zu klettern um den Eingang zum Paradies zu erreichen?

Der Film bietet neben der ganzen Drastik auch viele schwarzhumorige Momente sowie interessante Fakten und Gedanken zu Kunst. Letztlich geht es aber nur um eines: Lars von Trier selbst. Die ganze Zeit Lars von Trier. Lars von Trier, der auf der großen Bühne ein Spiel um masochistische Selbstbezichtigung als zwangsgestörter, selbstmitleidiger Sexist, unempathischer Psychopath und Narzisst vollzieht. Als Antichrist der Kunst, der in seinen Werken aus Verkommenem eine Kathedrale errichten, aus Scheiße Kunst schaffen möchte. ‎Von Trier, der dabei lustvoll die Grenzen jedes guten Geschmacks übertritt und bewusst Empörung hervorrufen will, was der Kunst in westlichen Ländern heutzutage nur noch schwer gelingt. Von Trier, der diese Empörung im Film mit seinem Bild vom Höllenfeuer vorwegnimmt. Von Trier, der damit das Publikum auffordert, auch über ihn zu richten. Von Trier, der zuletzt in Cannes nach Nazi-Anspielungen zur persona non grata erklärt wurde und nun mit einem Film zurückkehrt, in dem Jack als sein Alter Ego der ikonografischen Schöpfungskraft der Nazis Respekt zollt und somit von Triers Kritikern von damals einen großen Mittelfinger entgegenstreckt. Von Trier, der seinem Publikum einerseits krasse Grausamkeiten zumutet, dabei aber zugleich unverhohlen mit dessen Voyeurismus kalkuliert und diesen gegen Ende des Films vorführt. Von Trier, der also sein Publikum einerseits mit grausamen Szenen quält, es zugleich provoziert und als Heuchler verspottet, um es anschließend geradezu dazu zu zwingen, sein Tun als Kunst anzuerkennen. Was man durchaus als sadistische Erniedrigung des Publikums ansehen könnte. Sadismus und Masochismus, das wären dann Bezüge zu Nymphomaniac, es wird sogar eine Szene daraus gezeigt. Wie auch aus anderen seiner Filme, z.B. Antichrist mit seinem negativen Schöpfungsakt zu Beginn, der sich im aktuellen Film in Bild des Grases wiederfindet, das im Moment des Schnitts mit der Sense am lebendigsten sei. Das Ganze ist also ein Meta-Film über Lars von Trier und sein Werk.

Hat er es geschafft? Die negative Schöpfung vollbracht, den Abgrund der Hölle überwunden, Schöpfung durch Zerstörung und aus Zerstörtem, Kunst aus Verkommenem geschaffen? Schwer anzuerkennen, aber: Vermutlich schon. ‎Es bleibt nur die Frage, wie man diesen Exzess noch irgendwie steigern soll.

 

One Day 8 / 10

Ein Film über den Stress des Alltags bzw. des Familienlebens vor dem Hintergrund einer aufgeflogenen Affäre. Diese und die durch sie unter Druck stehende Paarbeziehung sind den ganzen Film über präsent, obwohl die beiden Partner aufgrund des stressigen Alltags mit Arbeit und Kinderbetreuung nur eine Handvoll von Sätzen miteinander wechseln können. Super spannend und schwer erträglich, der Stress kommt sofort beim Zuschauer an, gerade aufgrund der vor allem aus Alltagsgeräuschen bestehenden Tonspur. Sehr naturalistisch. Kinder bekommen? Vielleicht sollte man nochmal gut darüber nachdenken…

 

Todos Lo Saben 7 / 10

Entführungsgeschichte als Anstoß für das Zerbrechen einer Familie. Eine Aktion führt zur Nächsten, jede Reaktion lässt die Risse im Familiengefüge weiter aufklaffen. Zu Beginn spannend gestaltet, die Auflösung und das eher langsame Ende befriedigen aber nicht so sehr wie erhofft. So richtig fühlt man auch mit keinem der Charaktere. Was bleibt? Spanier sind schöne Menschen.

 

Wildlife 6 / 10

Coming of age im broken home. Die Konflikte der Eltern und deren Auswirkungen auf deren 14-jähren Sohn Joe sind schmerzhaft anzusehen. Der junge Hauptdarsteller erinnert äußerlich an den Regisseur Paul Dano, sein Hundeblick wird jedoch stellenweise zu lange gezeigt und nervt dann. Insgesamt etwas zu unsubtil in seiner Bildsprache / Kameraführung.

 

Gräns 9 / 10

Der Certain Regard trollt Cannes, cooler shit! Eine schwedische Zollangestellte lernt sich selbst kennen. Starke Bilder, die übel kippen könnten (hässliche Frau mit Tieren gegengeschnitten), es aber nicht tun. Hat manche unerwartete Kante, läuft weiter wo man ein Ende vermutet, schnürt dann aber alles gekonnt zusammen. Unterdrückte Gefühle und Andersartigkeit als gut funktionierende Metaebene. Einziger Kritikpunkt: Pädokriminalität dient hier weniger als ein Beispiel für Andersartigkeit die Andere schädigt, sondern wird vor allem dazu verwandt, eine „wirklich böse“ Tat im Skript zu haben.

 

Long Day’s Journey Into Night 4 / 10

Die lange Reise dreht sich um die Liebe, das sich Einlassen auf Liebe, Traum, Fiktion und Realität (und das Kino). Vermutlich. Zeit und deren Vergehen sind auch irgendwie wichtig.

Vielmehr kann ich dazu nicht sagen, der Film des Chinesen Bi Gan ist aus meiner Sicht extrem kryptisch. Vermutlich gibt es verschiedene Zeit- und Realitätsebenen, und womöglich sollte man der Kamera auch nicht zu sehr trauen, der Film deutet es selbst an. Man könnte wohl viel entdecken mit der nötigen Ausdauer, doch der Film gibt einem wenig an die Hand, um zu dieser gedanklichen Auseinandersetzung zu motivieren. Die Charaktere bleiben unnahbar, ihre Motivation und Ziele unverständlich.‎ Oft ist die Kamera statisch auf Personen gerichtet, die einem Exposition in langen Dialogen oder Monologen um die Ohren hauen, und diese Exposition ist selbst wiederum kaum verständlich. Es fühlt sich in seiner Traumartigkeit ein bisschen an wie Lynch, nur ohne psychoanalytischen Unterbau und ohne vergleichbare Spannung. Das letzte Drittel besteht, soweit ich es erinnere, aus einem einzigen langen Shot ohne offensichtliche Schnitte. Hier gewinnt der Film aufgrund der Unmittelbarkeit der Sequenz kurz an Fahrt und der traumartige Charakter wird nochmal verstärkt, doch dann wird auch diese Sequenz langatmig. Das lenkt dann die Gedanken auf die technische Souveränität, anstatt ins Geschehen hineinzuziehen. Eine lange Reise in große Langeweile.

 

Solo: A Star Wars Story 5 / 10

Solo soll die backstory ‎zu Han Solo liefern, doch der Film enttäuscht angesichts des guten Niveaus der Vorgänger und ist der schlechteste der neuen Star Wars Ableger.

Han’s Charakter hat keine große Entwicklung zu absolvieren, der Draufgänger scheint als der Mann geboren, den man in den alten Filmen bereits kennen lernte. Emotional nahe kommt er einem nie, Drehbuch und Darsteller sind hier womöglich zu gleichen Teilen schuld. Han’s große Liebe Qi’ra hat es noch härter getroffen, sie hat gar keine Persönlichkeit außer “die Frau” zu sein, zu entwickeln gibt es folglich auch bei ihr nichts. Zudem hat der Film besonders im Mittelteil Längen und der wichtige Part um einen Diebstahl aus einer Miene ist unspektakulär bis langweilig anzusehen.  Gegen Ende wird der letzte, weitgehend vorhersehbare Plot-Twist wohltuenderweise noch ein bisschen variiert, um das Ende der Films dann aber doch nach Plan A einzuläuten. Ein Film der seinen generischen Titel völlig zu Recht trägt.

 

Under The Silver Lake 6 / 10 (Achtung Spoiler)

‎Ein Hippie Noir Film, eine Melange aus Big Lebowsky und Inherent Vice. Dementsprechend prominent sind die Noir- und Paranoia-Elemente des Plots. Der ist zudem jedoch arg verschachtelt geraten und enthält einige Fäden, die langwierig ins Nichts laufen. Ist der Hauptcharakter Sam nun der Hundekiller? Und was ist mit dem zum Thema gemachten Sexismus? Die Probleme von Sam mit Frauen werden zunächst klar eingeführt, das Thema verschwindet dann einfach aber ohne irgendwelche Konsequenzen. Der krasse male gaze der Kamera, den man ansonsten vielleicht als denjenigen des Protagonisten / der Gesellschaft / des Publikums hätte erklären können, bekommt somit keine glaubwürdige Rechtfertigung. Andere Fäden des Drehbuchs kommen an Enden an, die völlig absurd wirken und einen als Zuschauer eher ratlos zurücklassen. Popkultur etwa wird von Schattenmännern zentral produziert, aber weniger um ideologisch in eine bestimmte Richtung zu indoktrinieren, sondern vorrangig um alle vorhandenen Bedürfnisse zu bedienen und auch Protest kapitalistisch zu verwerten? Das erscheint eher nicht als große Erkenntnis.

Letztlich geht es dem Film vermutlich darum, dass die Armen und die Wohlhabenden gleichermaßen Weltflucht betreiben, sich mit irrelevanten Dingen beschäftigen, um ihrer eigenen Irrelevanz zu entkommen. Die Reichen haben lediglich die Möglichkeit, dieses Unterfangen aufwändiger zu gestalten. Der Film mäandert sich aber mindestens eine halbe Stunde zu lang zu dieser Erkenntnis.

 

In My Room 9 / 10 (Achtung Spoiler)

‎Die Apokalypse ist in dir: in Ulrich Köhlers Film steht sie als Metapher für die Isolation des Protagonisten Armin, der mit sich selbst und der Gesellschaft nicht mehr klar kommt. Nachdem seine letzten Bezugspersonen wegbrechen verschwinden über Nacht plötzlich alle Menschen auf der Welt. Nach etwas Zeit arrangiert sich Armin mit der Einsamkeit, genießt sie sogar. Er baut sich in der Natur einen Einsiedlerhof mit Tieren auf und beginnt an dieser neuen Aufgabe innerlich zu gesunden. Plötzlich taucht eine Frau in der Abgeschiedenheit auf und es stellt sich die Frage, wie Armin mit der neuen Entwicklung umgehen soll, zumal seine neue Bekanntschaft wie er selbst innerlich versehrt ist.

Ulrich Köhlers ‎Film findet stimmige Bilder für die Apokalypse in Deutschland, die dabei nicht lediglich Genrezitat bleibt, sondern ‎auch die innere Welt des Protagonisten anschaulich visualisiert.

 

Dogman 7 / 10

‎Der ruhige und unscheinbare Marcello betreibt einen Hunde-Salon, wo er sich hingebungsvoll um die Tiere kümmert. Nein zu sagen fällt ihm schwer, bei Vierbeinern und Menschen gleichermaßen. Seine unterwürfige Art wird ihm zum Verhängnis, da sein Bekannter Simoncino ihn gnadenlos ausnutzt.

Der Film ist optisch wunderbar anzusehen mit toll komponierten Einstellungen. Leider erfährt Marcellos dependente “Hundepersönlichkeit” kaum eine Entwicklung. Zudem fällt es schwer für ihn in seiner Passivität Empathie aufzubringen, da der gleichnamige Marcello Fonte ihn als sensible, aber auch verschlossene Person darstellt, deren Beweggründe man eher erahnen als sehen kann. Marcellos drogenabhängiger ehemaliger Freund Simoncino hat hingegen fast gar keine positiven menschlichen Züge. Seine Gleichsetzung mit den Hunden könnte wohl der Protagonist ab einem bestimmten Zeitpunkt empfinden, die scheinbare Übernahme dieser Sicht durch den Film, der die Hundemetapher recht prominent in den Raum stellt, finde ich problematisch. Zu Mitgefühl mit den Figuren führt es jedenfalls kaum. Daher wird der Film insgesamt recht lang, worüber auch die authentische Darstellung der Szenerie und des Milieus in einem heruntergekommenen Stadtteil von Rom nicht ganz hinwegtragen kann.

 

Rafiki 7 / 10

Der Beginn einer gegen den Druck der Gesellschaft im kenianischen township ankämpfenden lesbischen Liebe. Rasanter Einstieg mit expressiven Bildern und funky Soundtrack. Die Hauptdarstellerin trägt unglaublich coole Outfits und spielt toll. Ihre Partnerin überzeugt mich dagegen in manchen Szenen nicht ganz.

 

10 Years in Thailand 5 / 10

Vier Kurzfilme, in denen die thailändischen Regisseure sich ihr Land in zehn Jahren in der von der Militärjunta dominierten Zukunft vorstellen. Stark wechselndes Niveau von Film zu Film und anstrengend anzusehen, aber war auch der vierte Film an diesem Tag.

 

Arctic 7 / 10

Mads Mikkelsen tut Dinge, oder: All Is Lost im Winter.

Schöne Shots, cooler Einstieg. Mads Mikkelsen stellt einen in der Arktis mit seinem Flugzeug Verunglückten dar, der in der Einsamkeit auf sich alleine gestellt überleben muss. Man lernt seine Persönlichkeit durch seine akribisch durchdachten Routinen anschaulich kennen. Leider trifft er später einige unsinnige Entscheidungen, die dazu schlecht passen. ‎Eine „Frau”, nur für ihn vom Himmel gefallen, gibt ihm Hoffnung und eine Möglichkeit für das Publikum manchmal zu sprechen, sie bleibt als Figur aber eine arge damsel und es kann sich aufgrund ihrer desolaten Lage keine Beziehung zwischen den beiden entwickeln. Da war Robert Redford alleine auf dem Boot in All Is Lost tatsächlich noch etwas spannender anzusehen, er hatte es ohne Kapuze aber auch einfacher damit, Emotionen darzustellen. Mikkelsen bekommt das in Anbetracht seiner Winterkleidung ebenfalls gut hin, der Kampf von Mann gegen Natur ist vor allem zu Beginn sehr spannend. Das Ende erscheint dann allerdings zu aufgesetzt.

 

The Spy Gone North 6 / 10

Die Geschichte eines südkoreanischen Spions der sich sowohl vor den Nordkoreanern, als auch den eigenen Leuten in Acht nehmen muss. Startet rastlos mit schnellen Cuts, eleganten Kamerafahrten‎, schönen Sets und spannenden Dialogen, in denen die Protagonisten sich gegenseitig testen: unterwürfig geben, bluffen, locken oder aggressiv auftreten? Das funktioniert erstmal sehr gut. Schauspielerisch ist der Film an manchen Stellen aber nicht immer überzeugend (teils zu klischeehaft schlapphutig, bebende Gerührtheit, mit letzter Kraft unterdrückte Tränen). Ganz stilsicher ist der Film zudem nicht (es gibt eine Holocaust-artige Schockerszene mit Leichenbergen und Kindern die die Leichen essen. WTF?!?), teils ist die Tonalität zu uneinheitlich: was will der Film sein? Doppelagententhriller, Groteske, Politdrama/Doku? Die ab der Hälfte des Films einsetzende Wendung von Thriller mit der Spannung ums nicht-aufgedeckt-werden hin zum ernsten Politdrama/Doku kommt etwas unvorbereitet und hat mich erstmal aus dem Film geworfen. Auch sind einige Charaktere zu oberflächlich ausgearbeitet. So wird gerade aus dem zum Antagonisten aufgebauten Geheimdienstchefs des Nordens letztlich zu wenig gemacht und die zunächst oft präsente nordkoreanische Geheimdienstoffizierin (?) ist am Ende nur „eine Frau“ ohne eigene Persönlichkeit oder Funktion. Nebenbei ist das CGI schlecht, die entsprechenden Szenen wegzulassen hätte dem Film nicht nur einige technische Peinlichkeiten erspart, sondern auch erzählerisch mehr Pepp gehabt. Fazit: unausgewogen.

 

Ash Is The Purest White 9 / 10

Hat mir von den Wettbewerbsfilmen die ich gesehen habe am besten gefallen. Qiao ist die Freundin von Bin, dem Boss einer‎ kleinen Gangsterbande. In dieser spielen traditionelle Regeln wie Respekt, Vertrauen und Loyalität eine große Rolle, doch das wird sich wandeln. Die Kohlemiene der Stadt wird demnächst geschlossen, große wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen zeichnen sich ab. Als Bin von einer jungen Bande angegriffen wird, die seinen Status nicht mehr akzeptiert,  rettet ihm Qiao das Leben, doch diese Tat wird alles verändern.

Man kommt öfters nicht mit in diesem Film, von einem Schnitt zum nächsten vergehen Jahre, wandeln sich Beziehungen. ‎Man muss sich neu orientieren, wieder zurechtfinden, herausbekommen was passiert ist. Das ist auch das Problem der Protagonisten, die mit dem Wandel des Landes und ihrer selbst zu kämpfen haben. Das wird in ruhigen, stimmungsvollen Bildern gezeigt, die dem nuancierten Spiel der Hauptdarsteller viel Raum geben. Ein starker Beitrag im Wettbewerb.

 

L’ Ange 6 / 10

Eine Verfilmung der Verbrechen des damals 17 jährigen Carlos Eduardo Robledo Puch, der bis heute die langjährigste Haftstrafe Argentiniens absitzt.

Carlito möchte frei sein und nur tun worauf er Lust hat. Ohne moralische Skrupel bricht er in die Häuser fremder Menschen ein. Reichtum interessiert ihn nicht, vielmehr genießt er den Nervenkitzel. Dabei ist sein Spaß daran umso größer, je riskanter die Aktion. Als er den etwas älteren Ramon trifft, werden die Raubzüge zunehmend gewalttätiger.

Der Film startet mit viel Schwung, die Bilder sind so hübsch wie der Hauptdarsteller, an dem die Kamera sich häufig weidet. Zusammen mit dem schmissigen Sound fühlt der Film sich an wie ein Musikvideo, er scheint die sorglose Haltung seines Protagonisten einzunehmen. Dessen Taten werden zwar von anderen Figuren in Frage gestellt, mit den Opfern fühlt man aber nie. Ist das nun gut oder schlecht? Ein Film der Spaß macht über einen Psychopathen der zum Spaß Verbrechen begeht, Natural Born Killers ohne die offensichtliche Pädagogik? Oder nur gedankenlos, bedenkenlos? Hat bei uns Akanauten nach der Vorstellung in Cannes zu langen Diskussionen ohne Ergebnis geführt. Auf jeden Fall ist der Film eine halbe Stunde zu lang, was ihm besonders schadet, falls man zu seinen Gunsten annimmt, er suche Subversivität durch gnadenlose Konsumierbarkeit.

 

Les Filles Du Soleil 6 / 10

‎Ein Film, dem die Dokumentation der Verbrechen des IS mindestens so sehr am Herzen liegt wie die Darstellung des Kampfes der kurdischen Frauen gegen den IS. In manchen der Sequenzen wird die Spannung sehr effektiv aufgebaut. ‎Einige stimmungsvolle Bilder, die Figur der Journalistin bleibt aber etwas blass und ist für den Film auch nicht wirklich nötig (bzw. fragwürdig, da der Film massive Probleme mit journalistischer Distanz hat). Die Taten des IS werden sehr authentisch geschildert und machen betroffen, der Soundtrack forciert die Emotionen aber zu heftig. Auch sonst hätte ich mir eine ästhetisch deutlich reduziertere, zurückhaltendere Darstellung gewünscht.‎ Die ideologische Position der Kurden wird unhinterfragt übernommen, das kam bei mir gefühlt aber weniger penetrant an als bei den anderen Akanauten, mit denen ich über den Film gesprochen habe.

 

Fahrenheit 451   7 / 10

Mit dem innerlich zerrissenen Captain Beatty gelingt Michael Shannon  ein starker Antagonist, den der Film bitter nötig hat. Michael B. Jordan als Feuerwehrmann „Montag“ bleibt dagegen blass und Sofia Boutella als “die Frau” wirkt zu sehr wie ein Model, als dass man ihr die technisch begabte Revolutionärin wirklich abnähme. Optisch schön anzusehen und vom pacing schnell genug um nicht zu langweilen, aber heftige Logiklücken und die insgesamt platte Symbolik stören. Unterhaltsam, aber auch schnell wieder raus aus dem Kopf.

 

Murder Me Monster (nicht zu Ende gesehen)

In den Anden treibt ein Monster sein Unwesen. Es tötet mehrere Frauen und sein Tun hat wohl irgendwas mit Sexualität zu tun. Gerade im ersten Drittel super spannend mit tollen Bildern, dann allerdings mit Längen und immer stärker der Frage, ob sich das Ganze sinnvoll auflösen lässt. Die letzten 20 Minuten habe ich leider nicht bleiben können, kann den Film daher nicht abschließend beurteilen. Auf jeden Fall ein interessanter Beitrag im Certain Regard.

 

The Stropers 9 / 10

Ein berührender Film über den Konkurrenzkampf zweier Jungen in einer Familie, der zudem die Kultur und den Abstiegskampf der Buren in Südafrika zeigt. Für ein Erstlingswerk extrem souverän.

 

Shoplifters 9 / 10

Osamu und sein Sohn Shota sind ein eingespieltes Team, zusammen begehen sie Ladendiebstähle. So tragen Sie zum Haushalt ihrer in Armut lebenden Familie bei. Eines Tages nehmen Sie ein kleines Mädchen Namens Yuri aus der Nachbarschaft mit nach Hause, das von seiner Mutter vernachlässigt wird. Yuri wird bald Teil der Familie, doch deren lange angelegten Bruchstellen reißen infolge der neuen Entwicklung plötzlich auf.

Ein ruhiger und dabei doch immer spannender Film mit viel Raum für die nuancierten Charaktere und ihre Entwicklung.‎ War einer unserer potenziellen Favoriten für die Palme, auch wenn es ein entschieden unaufgeregter Film ist.

 

The State Against Mandela And The Others 5 / 10

Doku über den Prozess gegen Nelson Mandela und seine Mitstreiter. Hat einige starke Szenen wenn die politische Argumentation der Angeklagten vor Gericht im O-Ton hörbar ist. Krankt aber an zu viel uninteressantem Material, der Beschränkung auf die positiven Seiten der aktuellen Situation in Südafrika sowie den teils stark propagandistisch anmutenden Animationen, die die Tonaufnahmen begleiten.

 

The Subtle Indifference Of The World 7 / 10

Ein bitteres Portrait des Lebensgefühls der ärmeren Menschen in Kasachstan, die sich in der Mühle aus Ansprüchen der Familie, staatlichem versagen, Korruption und Vetternwirtschaft keine Freiräume für persönliches Glück erarbeiten können. ‎Der Mensch verdirbt vieles, nur die Natur ist rein und überdauert die kurzen menschlichen Tragödien ungerührt.

Eröffnet mit wunderschönen und voller Symbolik steckenden Bildern, ist letztlich aber nicht ganz so fokussiert wie ich es mir gewünscht hätte, bekommt Längen. Zudem sind einige Bilder nicht unbedingt subtil (z.B. etwas zu eindeutig kommentierende Wandbilder nach bestimmten Szenen, eine vom Wind fortgeblasene Karikatur nach einem Verrat). Viel Potenzial, fühlt sich aber nicht ganz rund an.

 

Mandy 9 / 10

Time to get Caged. Ein Mann gegen eine Bande von psychedelischen Rockern und okkulten Sektenanhängern. Erst ernst und psychedelisch-stylisch wie ein Winding-Refn, stürzt sich dann lustvoll in die totale overacting-Eskalation. Stumpf ist Trumpf!

 

Lazzaro Felice 7 / 10

Der junge Lazzaro lebt in einem italienischen Bauerndorf, wo er aufgrund seiner freundlich-naiven Art von den anderen Bewohnern nicht wirklich ernst genommen wird. Ist er zu nett für die raue Welt?

Was sich zunächst nach einer rührseligen Geschichte anhört, wird von der Regisseurin Alice Rohrwacher geschickt verkompliziert. Immer wenn man sich gerade eine hübsche Theorie zurechtgelegt hat, wie der Film zu lesen sei, bekommt man eine neue Information und muss erneut überlegen. Formal sehr durchdacht und zurecht mit dem Preis für das beste Drehbuch bedacht. Allerdings für mich etwas zu parabelhaft, irgendwann war ich nicht mehr wirklich dabei. Womöglich lag es aber auch zu einem guten Teil daran, dass es mein 26. Film des Festivals war: Kunst kann ich nicht mehr.

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