BERLINALE – Was eine Frau: Der chilenische Wettbewerbsbeitrag “A Fantastic Woman”


Bis zum dritten Berlinaletag hat es gedauert, dass ein Wettbewerbsfilm endlich richtig beeindruckt. Josef Haders Wilde Maus hat gestern zwar für viele Lacher gesorgt, spielt aber doch in einer ganz anderen Liga als Sebastián Lelios A Fantastic Woman, nach dessen Schlussszene man erst merkt, dass man seit 100 Minuten nicht ausgeatmet hat. Oder so ähnlich.

Marina ist eine Transfrau, deren Partner plötzlich stirbt. Das alleine ist schlimm genug, aber die eigentliche Tortur ist, wie sich herausstellt, erst die Zeit danach. Sie muss feststellen, dass nicht nur die Familie ihres verstorbenen Partners einen tiefen Hass gegen sie schürt, auch der Arzt, zu dem sie den sterbenden Orlando gebracht hat, zeigt sich misstrauisch und fahndet nach ihr, als sie nach dem Tod ihres Partners das Krankenhaus verlässt. Die Polizei wird eingeschaltet, das Kriminalamt für sexuelle Straftaten verständigt, und dauernd klingelt ihr Handy mit einer neuen ihr bisher unbekannten Person am anderen Ende. Sie muss sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, bei der der Arzt ihren nackten Körper fotografiert, und “Marina” will niemand als ihren Namen akzeptieren. Orlandos Familie greift sie verbal und körperlich an, keiner von ihnen scheut sich, Marina seinen Ekel vor ihr offen zu zeigen.

“Wenn ich dich anschaue, weiß ich nicht, was du bist”, sagt Orlandos Exfrau zu ihr, und verzieht dabei nicht einmal das Gesicht. Zustimmend nickt sie, als Marina “ich bin eben nicht normal wie du” erwidert und wegläuft – nicht ahnend, dass der Kommentar höhnisch gemeint war. “Orlando war verrückt”, sagt sein Bruder abschließend, nachdem er morgens einfach in die gemeinsame Wohnung des Paares geplatzt und Marina prüfend angesehen hat.

Diese dermaßen brutalen, unmenschlichen Demütigungen sind so erschütternd, dass man über Marinas Boxsack zuhause kaum noch verwundert ist. Es schien wohl seinen Sinn gehabt zu haben, dass Orlando sie zu Lebzeiten von seiner Familie ferngehalten hat.

Die Spannung des Films rührt daher, dass man zunächst überhaupt nicht begreift, was all diese Menschen von Marina wollen – warum sie ihr nicht glauben, sie verdächtigen, sie feindselig behandeln. Was hat sie bloß verbrochen? fragt man sich und kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Frau eine ganz andere sein soll, als sie uns vorgestellt wurde. Wir haben sie als Frau wahrgenommen, so, wie sie sich selbst als Frau wahrnimmt. Haben ihre etwas tiefere Stimme vernommen, ihren Gesang, vielleicht noch ihre flache Brust. Und dann nicht weiter darüber nachgedacht. Erst als die anderen Figuren ihre weibliche Identität in Frage stellen, bemerken wir ihre breiten Schultern, die kräftigen Beine, die männlichen Gesichtszüge. Denken uns: Ja, vielleicht war Marina früher mal ein Mann.

Damit trifft Lelio eine wichtige Aussage: Unser Verständnis von Normalität ist nicht angeboren, sondern angelernt. Wir lassen uns in unserer Weltanschauung stark von der Meinung anderer Leute beeinflussen. Wir glauben gerne, was wir hören und akzeptieren viel, ohne zu hinterfragen. Sieht man einen Transmenschen, merkt man das oft gar nicht, und die Welt dreht sich weiter.

Und zum Glück lässt sich Marina nicht unterkriegen. Immer wieder bestätigt sie sich ihre eigene Weiblichkeit und geht in ihr auf, sei es durch figurbetonte Sommerkleider, hohen Gesang oder – grandios – eine Tanzszene, in der sie glitzernde Flügel trägt. Und gleichzeitig bricht sie mit ihrer Weiblichkeit und spielt mit der Geschlechterzuweisung, als sie in die Männersauna geht und ihre Haare zusammenbindet.

In einer Szene liegt Marina nackt auf dem Bett, die Beine angewinkelt, einen kleinen Spiegel im Schoß, der ihr Gesicht zeigt und gleichzeitig ihr Geschlechtsteil verbirgt. Immer wieder ist es der Spiegel, von dem wir meinen, er könne unsere Identität bestimmen. Marina sieht sich, und sieht eine Frau. Sie ist die Einzige, der diese Entscheidung zusteht.

 


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