Am letzten Tag ist es dann doch noch passiert: Ich bin früher aus einem Film gegangen. Nachdem ich meine ersten 22 Filme immer vollständig und ohne Einschlafen durchgehalten habe, musste ich beim griechischen Panorama-Beitrag The Miracle of the Sargasso Sea dann nach einer Stunde doch aufgeben. Erwartet hatte ich mir von Regisseur Syllas Tzoumerkas einen Film, der sich in die Greek Weird Wave einordnet, sprich mit komisch, absurden Szenen und artifizieller Schauspielerei punktet, wie man sie in den Filmen von Gründungsvater Giorgos Lanthimos (Dogtooth, The Lobster) oder auch bei Athina Tsangari (Attenberg) findet. Bekommen habe ich aber einen Film, der – zumindest in der Stunde, die ich gesehen habe – eher an einen schwedischen Fernsehkrimi à la Wallander erinnert. Dabei sind alle Charaktere so unsympathisch und die Geschichte so langweilig, dass ich mich nicht überwinden konnte bis zum Ende zu bleiben, zumal ich sonst auch den Anfang der Abschlussgala verpasst hätte.
So sind es dann am Ende statt 23 Filmen nur 22 1/2 geworden, deren durschnittliches Niveau allerdings deutlich höher war, als das des letzten Films und auch höher als ich vor Beginn der Berlinale erwartet hätte. Insgesamt hatte ich außer Miracle of the Sargasso Sea und Vice keinen Totalausfall dabei. Zwar gab es durchaus Filme, die mir nicht in Erinnerung bleiben werden (Dust, Elisa y Marcela), oder eher anstrengend waren (Ich war zuhause, aber…, A Tale of Three Sister) aber erstere waren auch nicht ärgerlich und letzteren konnte ich zumindest in Teilen etwas abgewinnen. Auf der anderen Seite gab es aber auch ein paar absolute Highlights (So long, my Son, God exists, her Name is Petrunya, The last to see them) und einige äußerst positive Überraschungen (The Crossing, We are little Zombies, Demons), so dass ich am Ende durchaus mit meiner Bilanz zufrieden bin.
Zufrieden bin ich auch mit meiner Regisseurinnen-Bilanz; von den 22 Filmen, die ich (vollständig) gesehen habe, waren am Ende sechs von Regisseuren, zwei von einem Regie-Paar bestehend aus einem Mann und einer Frau, einer von einem Regie-Paar bestehend aus zwei Frauen und 13 von Regisseurinnen. Natürlich ist diese Bilanz auch durch meine Film-Wahl gefärbt, bei der ich Filme von Regisseurinnen denen von Regisseuren bei Zeitkonflikten vorgezogen habe, sie zeigt aber auch, dass es die Berlinale unter Leitung Dieter Kosslicks geschafft hat ihr Versprechen des Augenmerks auf Gendergerechtigkeit einzulösen und vielen Regisseurinnen den Weg ins Programm ermöglicht hat.
Die Preisverleihung
Dies wurde am gestrigen Abend, zumindest in Teilen, auch nochmal bei der Preisverleihung der Silbernen und des Goldenen Bären durch die (paritätisch besetzte) Internationale Jury deutlich, die Angela Schanelec für ihren Film Ich war zuhause, aber… mit dem silbernen Bären für Regie auszeichnete – eine aufgrund des sperrigen Films durchaus umstrittene Entscheidung, was in der Live-Übertragung der Veranstaltung für Journalist*innen auch für Buhrufe sorgte. Für mich ist die Entscheidung nachvollziehbar, da Schanelecs Handschrift im Film deutlich erkennbar ist und ihre Intention mir (so glaube ich zumindest) klar geworden ist. Trotz allem kann ich die allgemeine Begeisterung, mit der der Film in der deutschen Presse (allen voran durch Andreas Busche im Tagesspiegel) begegnet wurde, nicht ganz nachvollziehen. Zwar ist es schon richtig, dass Schanelecs Film durchaus mal etwas anderes ist und damit aus dem Mitbewerberfeld heraussticht, dabei ist er aber vor allem eines, nämlich langwierig. Es mag in ihrem Film durchaus Bedeutungsebenen geben, die sich mir noch nicht erschlossen haben, auch weil ich mich mit den Werken auf die sie rekurriert (allen voran Hamlet) nicht gut genug auskenne. Trotz allem bin ich der Meinung, dass ein Film immer auch unterhalten sollte und das hat er zumindest mich nicht. In vielen Berichten der Kritiker*innen scheint auch Inhaltsleere zu dominieren, die – so könnte man ihnen vorwerfen – einen Versuch darstellt zu kaschieren, dass sie sich selbst nicht so sicher sind, was Schanelec uns eigentlich sagen möchte. So schreibt Annett Scheffel in der Süddeutschen etwas verschwurbelt: “Vielleicht erzählt aber gerade die Tatsache, dass viele Zuschauer so schwer daran zu tragen schienen, dass sich Schanelecs Film ganz unverfroren einem klaren Verständnis entzieht, viel über unsere Gegenwart und ihre Unübersichtlichkeiten.” Das mag zwar vielleicht stimmen aber wenn am Ende keine Aussage entsteht, dann ist der Versuch auch nicht viel wert. Immerhin gibt Scheffel auch zu, dass der Film “bisweilen auch etwas anstregend” sei.
Immerhin hat sich die Befürchtung vieler mit denen ich gesprochen habe, der Film könnte den Goldenen Bären gewinnen, nicht bewahrheitet. Diesen verlieh die Jury an die französisch-israelische Koproduktion Synonymes
des Regisseurs Nadav Lapid. Zwar habe ich diesen Film selbst nicht gesehen, so dass ich mich zu der Entscheidung nicht weiter einlassen kann, allerdings habe ich von mehreren Seiten schon gehört, dass die Entscheidung für den unbequemen Film nachvollziehbar sei. In jedem Fall hat der Film des israelischen Regisseurs, der darin mit seiner eigenen Erfahrungen abrechnet, bereits für viele Diskussionen gesorgt, was ja nicht unbedingt das Schlechteste ist. Von vielen Seiten wurde auch die Auszeichnung von Systemsprenger der deutschen Debüt-Regisseurin Nora Fingscheidt mit dem Silbernen Bär Alfred-Bauer-Preis “für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet” positiv aufgenommen. Zwar habe ich auch diesen Film nicht gesehen aber auch hier gehört, dass dieser zwar bei weitem nicht perfekt sei aber mit seiner Hauptdarstellerin, der zwölfjährigen Helen Zengel, trotzdem ein Highlight des Festivals war.
Etwas überraschend war die Auszeichnung gleich beider Hautpdarsteller*innen des chinesischen Beitrags So long, my Son (meine Besprechung des Films findet ihr hier), die aber – insbesondere im Falle des männlichen Haupdarstellers Wang Jingchun, mehr als gerechtfertigt ist und nicht auf ein “politisches Statement” reduziert werden kann. Damit ist zumindest mein persönlicher Favorit des Wettbewerbs (und wenn man nach der Auflistung des Tagesspiegels geht auch der der Kritiker*innen) nicht vollkommen leer ausgegangen, wenn er auch nicht den ganz großen Preis mitnehmen konnte. Leer ausgegangen ist hingegen eines meiner weiteren Highlights, der mazedonische Beitrag God exists, and her name is Petrunya, den ich bereits an meinem ersten Tag gesehen hatte. Insbesondere Hauptdarstellerin Zorica Nusheva hätte den Silbernen Bären durchaus verdient gehabt.
Nebenbei sei auch noch erwähnt, dass in der Sektion Forum der Essay-Film Heimat ist ein Raum aus Zeit des deutschen Regisseurs Thomas Heise mit dem unabhängigen Caligari-Filmpreis ausgezeichnet wurde. Der Caligari-Filmpreis wird vom Bundsverband kommunale Filmarbeit (BkF) gestiftet, in dem neben dem Freiburg KoKi auch der aka Mitglied ist.
Die Kinder der Toten (Forum, Österreich)
Nach so vielen Worten zur Preisverleihung möchte ich zum Schluss doch noch ein paar Worte über einen der drei Filme verlieren, die ich an meinem letzten Tag in Berlin gesehen habe. Dabei handelt es sich um die experimentelle Verfilmung des Romans Die Kinder der Toten der österreichischen Autorin Elfriede Jelinek (siehe Bild des Artikels). Dieser von Ulrich Seidl produzierte, vom dem Regie-Paar Kelly Copper und Pavol Liska (die sich selbst nur als “Nature Theater of Oklahoma” bezeichnen) ausgeführte und auf Super 8 gedrehte Stummfilm ist eine Mischung aus Heimatfilm, Gesellschaftssatire und Zombieflick, dessen Bewerbung durch die Produktionfirma schon aufhorchen lässt. Dort heißt es: “Ein SUPER 8-Ferienfilm aus der Obersteiermark verwandelt sich schleichend in eine Auferstehung ,untoter‘ Gespenster: Eine Sekretärin und ewige Tochter sieht sich mit einer bösartigen Doppelgängerin konfrontiert und treibt ihre Übermutter in den Wahnsinn.” Und weiter: “Eine Nazi-Witwe kreiert in einer alten Fabrik ein CINEMA 666, in dem die österreichische Vergangenheit hemmungslos beweint werden kann.”
Spätestens, wenn dann im Film eine Gruppe syrischer Lyriker (Zitat) in ein steirisches Restaurant kommen und fragt, ob es hier denn nicht syrische Küche gebe (steirisch heißt auf englisch ja “styrian”) und die oben erwähnte Mutter unter großem Messerquietschen ihr, nach eigener Aussage noch rohes Schnitzel, isst während am Nebentisch ein Mann sitzt der einen Palatschinken mit zwei Augenlöchern im Gesicht hat, der an die Maske Jasons in Friday the 13th erinnert, weiß man dann auch woran man ist. Gekonnt spielen Copper und Liska dabei mit allen Medien, die sie zur Verfügung haben, wenn sie die verrauschte Heimatfilm-Optik einer Kuhherde mit einem nagelneuen BMW kontrastieren oder alle Möglichkeiten ausnutzen, die ihnen die Zwischentitel ihre Stummfilms bieten. So wechseln diese innerhalb einer Sequenz häufig zwischen direkter und indirekter Rede, so dass man am Ende nicht mehr weiß, was die Personen im Bild am Ende wirklich gesagt haben. Ihre Satire ist dabei beißend und sie schrecken nicht davor zurück alles und jeden durch den Kakao zu ziehen, seien es die steirischen Hinterwälder, die holländischen Busreisenden oder die syrischen Lyriker. Dass der Film ein vollkommen verrücktes Unterfangen ist, wird spätestens dann deutlich, wenn man herausfindet, dass Liska und Copper Jelineks Grundstoff nie selbst gelesen haben, da es gar keine englische Übersetzung davon gibt. Vielmehr haben sie sich nur erzählen lassen um was es geht und den Wikipedia-Artikel gelesen.