Berlinale Tag 4


So long, my Son © Li Tienan / Dongchun Films

Wie ich gestern bereits angekündigt hatte, habe ich gestern zusammen mit Paul einen Podcast aufgenommen, den ihr hier finden könnt. Paul arbeitet im WOLF, einem unabhängigen Kino in Neukölln, das sich im Jahr 2015 mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne gegründet hat und seitdem in einem kleinen Kinosaal für 60 Personen ein alternatives Kinoprogramm bietet – ein Projekt, das dem aka natürlich sehr nahe liegt. Während der Berlinale hat Paul jeden Tag einen kurzen Podcast erstellt, in dem er über Filme spricht, die er oder seine Gäste gesehen haben, und Interviews mit Menschen vor und hinter den Kulissen der Berlinale führt. In einer der ersten Folgen, die ich zufällig auf meiner Fahrt nach Berlin angehört habe (Google: Podcast Berlinale), hat er dazu aufgerufen, sich bei ihm zu melden, falls man Lust hat auch mal ein bisschen über Filme zu sprechen und da habe ich mich natürlich sofort angesprochen gefühlt. Im Podcast spreche ich unter anderem über den bereits im gestrigen Beitrag erwähnten dreistündigen, chinesischen Wettbewerbsbeitrag Di jiu tian chang (So long, my Son), der mein bisheriges Highlight der Berlinale darstellt und den ich auch im Folgenden kurz besprechen werde.

So long, my Son (Wettbewerb, China)
Ursprünglich hatte ich aufgrund der langen Laufzeit überhaupt nicht vor mir diesen Film anzuschauen. Nachdem mein Alternativprogramm aber auch nicht überwältigend war, habe ich mich dann schlussendlich doch entschieden die Pressevorstellung zu besuchen – und alles andere wäre auch ein großer Fehler gewesen, denn Wang Xiaoshuais Familien-Epos war mit Abstand der Beste Film den ich im Wettbewerb und auch auf der Berlinale insgesamt gesehen habe. Hinzu kommt, dass ja ursprünglich zwei chinesische Filme im Wettbewerb laufen sollten, Zhang Yimous Beitrag One Second aber, vermutlich aus Zensur-Gründen, kurzfristig aus dem Programm gestrichen wurde, wie ich bereits vorgestern berichtet habe. Umso gespannter war ich, ob Xiaoshuai einen der Xi Jinping Regierung angepassten stromlinienförmigen Film abliefern würde, zumal im Vorspann das offizielle Drachen-Siegel der chinesischen Zensurbehörde prangt.
Diese Befürchtungen bestätigten sich dann aber nicht, da So long, my Son zwar in erster Linie eine Familiengeschichte ist, die aber – getreu dem diesjährigen Motto der Berlinale “Das Private ist Politisch” – unter anderem mit der Einkind-Politik Chinas und den wirtschaftlichen Problemen der siebziger Jahre zwei Themen anspricht, die politisch durchaus heikel sind. Dabei erzählt der Film die Geschichte von Liyun und ihrem Mann Yaojun, die ihren Sohn Xing bei einem tragischen Unfall verlieren, mit einer sehr ruhigen und einfühlsamen Kameraführung, die an Alfonso Cuaróns Oscar-Favoriten Roma erinnert. Da der Film außerdem mit verschiedenen Erzählebenen und -zeiten arbeitet, die durchweg die Aufmerksamkeit fordern, und er außerdem auch eine Geschichte zu erzählen hat, die den Rahmen des Filmes füllt, wird er in keiner Minute der dreistündigen Laufzeit uninteressant. Bemerkenswert ist auch, dass Xiaoshuai trotz der Komplexität seines Drehbuches die Zuschauer*innen nie verliert. Auch wenn manche Einzelheiten (vielleicht nicht unbedingt ungewollt) nicht immer sofort klar waren, hatte ich zu keinem Zeitpunkt des Films das Gefühl verloren zu sein. Und würde der Film dann zwei Szenen früher aufhören, hätte er das Potential in einem Atemzug mit den ganz Großen genannt zu werden. Spannend wird dann auch zu sehen sein, ob die Jury des Wettbewerbs das Urteil der Kritiker*innen teilt, die den Film durchweg positiv besprochen haben, und ihn am Samstag mit dem Goldenen Bären auszeichnet – verdient hätte er es aus meiner Sicht allemal.

Lückenbüßer

  • Variety (Bette Gordon, USA/Deutschland): Feministisches Independent-Kino aus dem New York der achtziger Jahre. Der Film wurde in einer restaurierten 35mm-Fassung im Forum unter Anwesenheit der Regisseurin gezeigt und handelt von einer Frau, die in einem Pornokino Karten verkauft und einem der Kunden nachts folgt, womit Gordon es schafft den “male gaze” ins Gegenteil zu verkehren. Absolutes Highlight sind die von der Hauptdarstellerin Sandy McLeod stoisch vorgetragenen Porno-Monologe, die ihren Freund vollkommen aus der Fassung bringen.
  • Varda par Agnès (Agnès Varda, Frankreich): Neuestes Regiewerk der französischen Altmeisterin, die mit ihren jetzt schon über neunzig Jahren einen Film als Retrospektive auf ihre eigene Karriere abliefert. Der Film besteht dabei aus verschiedenen Aufnahmen von Vorträgen, die Varda in letzter Zeit gehalten hat, die sie unterhaltsam aneinander schneidet und in denen sie durch einen unglaublichen Charme punktet.

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