Berlinale 2020 – Zweiter Tag


Effacer l´historique (Delete History)

Filmisch startete der zweite Tag mit einem verhältnismäßig kurzweiligen französisch-belgischen Film von Benoît Delépine und Gustave Kervern. Die Handlung dreht sich um drei VorstädterInnen fortgeschrittenen Alters, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit den Problemen und Absurditäten der modernen Medienwelt konfrontiert sehen. Völlig überwältigt von der absoluten Durchdringung des Alltags (von der Suche nach Ampeln in Captcha-Eingaben zu dem verzweifelten Versuch einen Brief an Facebook zu schicken um die Löschung eines Videos zu beantragen) endet der Kampf der drei Musketiere mit einem verzweifelten Angriff auf die kolossalen Datenzentren des Silicon Valley. Mit diesem Ort, an dem die persönlichen Informationen über Milliarden von Menschen verarbeitet und gespeichert werden, finden die Regisseure einen passenden Schauplatz für das absurde Finale der Komödie. Die riesigen Datenhallen, die kaum anonymer und trister sein könnten, werden zum Sinnbild für den Kampf gegen Windmühlen in einer Social-Media-Welt.

Der Film schafft es einen unterhaltsamen Kommentar auf den alltäglichen Medienwahnsinn darzustellen und hat einige urkomische Momente, die selbst einen Kinopalast voll FilmkritikerInnnen zum Lachen bringen konnten. Der Film kratzt jedoch lediglich an der Oberfläche der Thematik und kann selbst nicht wirklich einen produktiven Beitrag zum Diskurs leisten. Aber vielleicht reicht es auch schon einfach mal über die Absurdität dieser Medienwelt lachen zu können.

Schwesterlein

Gut vorher nochmal gelacht zu haben, denn im Schweizer Beitrag zum diesjährigen Wettbewerb der Berlinale wird mitunter heftig auf die Tränendrüsen gedrückt. Schon in der ersten Szene wird die innige Beziehung der Zwillinge Lisa (Nina Hoss) und Sven (Lars Eidinger) effektiv eingefangen. Verbunden durch einen Infusionsschlauch spendet Lisa ihrem krebskranken Bruder Knochenmark, um ihn im Kampf gegen die Leukämie zu unterstützen. Der Kampf gegen die fortschreitende Krankheit wird von dort zunehmend der einzige Lebensmittelpunkt der beiden und beginnt auch die Beziehungen innerhalb der Familie auf die Probe zu stellen.

Vor allem Lars Eidinger ist als verrückt-extravaganter Theater-Schauspieler mit bunten Perücken voll in seinem Element. Böse Zungen vermuteten auf dem Weg aus dem Kino, die Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond könnten vielleicht einfach einen normalen Dienstagnachmittag im Leben Eidingers gefilmt haben, um Material für den Film zu sammeln… Aber für mich hat die wagemutige Darstellung eines krebskranken Mannes durchaus funktioniert und Eidinger konnte auch die emotionaleren Momente des Films fast so gut tragen wie Nina Hoss. Schade nur, dass die inhärente Dramatik des Kampfes gegen die tödliche Krankheit bald eine prominentere Rolle einnimmt, als die wirklich Interessante Dynamik in der Beziehung der Zwillinge. So führt der Fokus auf ihren kranken Bruder zu einem Konflikt zwischen Lisa und ihrem Ehemann, der dermaßen schnell entgleist, dass er kaum noch glaubwürdig wirkt, und auch das Ende überwältigt mit einer ordentlichen Portion Pathos.

Willem Dafoe wirkt auf diesem Bild auch überfordert von Siberia
© 2020 Vivo film, maze pictures, Piano

Siberia

Es beginnt so entspannt. Willem Dafoes Charakter Clint steht in seiner heruntergekommenen bis gemütlichen Holzhütte hinter dem Tresen und schenkt seinem Gast – einem dick in Fellen gewickelten Wanderer – einen wärmenden Vodka ein. Alleine die Tatsache, dass der Titel des Films die verschneiten Weiten Sibiriens verspricht, aber alles doch eher nach dem Schwarzwald aussieht, dient als dunkle Vorahnung des weiteren Verlaufs. Schnell versickert die Handlung des Films in (alp-)traumhaften Sequenzen, die eine zunehmend dunkle Atmosphäre schaffen. Vor allem die Beleuchtung und Kamera sorgen in einzelnen Szenen immer wieder für wirklich bemerkenswerte visuelle Momente.

Ob das ganze jetzt eine Parabel für Wahnsinn, Reue oder sogar für die Erfahrung des Fegefeuers sein soll, hat sich mir dabei nicht erschlossen. Man könnte jetzt den Wikipedia-Artikel des Regisseurs Abel Ferrara lesen und versuchen in den einzelnen Versatzstücken des Filmes Elemente der persönlichen Traumabewältigung wiederzufinden. Für mich war die ziellos-abstrakte Erzählweise des Films aber schon anstrengend genug, um zusätzliche Energie dafür auszuwenden.

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