Berlinale 2020 – Erster Tag


Mit der U-Bahn an den Potsdamer Platz. Im Gedränge das Programmheft studieren und Plan für den nächsten Tag machen. Beim Umsteigen vier Minuten auf die S-Bahn warten? Das reicht sogar noch für ein Franzbrötchen vom Bäcker. Kurz vor 9 Uhr im Stechschritt vom Bahnhof zum Berlinale-Palast, um noch pünktlich in den ersten Film zu kommen. Wer zu spät kommt, muss in den Rängen hinten sitzen. Nach dem Film schnell in den Pressebereich im Hyatt Hotel. Klo. Kaffee holen. Der ist meistens schon leer, wenn man die Schlange für den Ticket-Schalter bezwungen hat. Karten für den nächsten Tag holen. Kurzer Blick in die Pressekonferenz. Willem Dafoe hat einen beeindruckenden Schnurbart und einen sehr bunten Wollpulli. Erzählt wie gerne er Hunde mag. Für mehr Anekdoten ist keine Zeit, der nächste Film beginnt in 10 Minuten…

Dieser kurze Abschnitt beschreibt hoffentlich ganz gut meine letzten vier Tage auf der Berlinale und dient wenigstens als eine halbwegs annehmbare Entschuldigung weshalb ich erst an meinem fünften Festivaltag dazu komme einige kurze Eindrücke aufs Papier zu bekommen. Es gibt viel zu sehen auf der Berlinale und auf einen kurzen oder langen Meinungsaustusch nach dem Film will kann man ja auch nicht verzichten…

Pinocchio

Du sollst nicht lügen, du musst in die Schule gehen, du sollst nicht mit fremden Menschen mitgehen… Die formelhafte Rezitation dieser und ähnlicher Lektionen mussten wir im Laufe der Kindheit wahrscheinlich alle über uns ergehen lassen. Falls die letzte Auffrischung schon ein paar Jahre zurückliegt, könnte sich ich Matteo Garrones Neuverfilmung von „Pinocchio“ lohnen, den ich als ersten Film im wunderschönen Kinosaal des Berlinale-Palasts sehen durfte. Obwohl die Geschichte weitestgehend bekannt ist und die schwingende Moralkeule es mitunter mit Pinocchios wachsender Nase aufnehmen kann, würde ich den Film dennoch empfehlen.

Die sehr traditionelle Erzählstruktur des Märchens ist gleichzeitig die größte Stärke des Films. Statt langwieriger Übergänge zwischen kindgerechten Lektionen oder tiefgründiger Charakterstudie kreiert der Film mit seiner anekdotenhaften Erzählweise eine wirklich stimmige Atmosphäre. Dabei hilft es, dass die Kombination aus traditionellen Spezialeffekten und Computeranimation beeindruckend gut funktioniert. Zusammen mit den wunderschönen Landschaftsbildern aus Apulien, der die Handlung des Films fest in einer garnichtmal so märchenhaften Realität verankert, ist der Film zumindest in optischer Hinsicht wirklich sehenswert.

Undine

Nach „Transit“ schickt Christian Petzolds mit „Undine“ eine zweite abgefahrene Literaturadaption auf der Berlinale ins Rennen, wobei er wieder mit Paula Beer und Franz Rogowski als Hauptdarsteller zusammenarbeitet. Die Idee des Films baut auf die Figur der Undine in der germanischen Mythologie auf, die als eine Art Wassernymphe zum ewigen seelenlosen Herumtreiben in ihrem Element verbannt ist, bis sie mit einem Menschen Liebe findet. Petzold spielt mit den Motiven der Sage und macht daraus eine abstrakte Liebesgeschichte mit tragischen Elementen. Trotz vieler Wirrungen in Handlung und Darstellung bleibt der Film bis zum Ende auf eine etwas frustrierende Art und Weise undurchdringbar.

Die Abstraktion der literarischen Vorlage und der filmischen Erzählweise stellen gleichzeitig die größte Stärke, als auch die einzige Schwäche des Films dar. So ergeben sich die vielen Teilstücke, die der Regisseur auf durchaus interessante Weise jongliert, am Ende nicht zu einem kohärenten Ganzen. Das beste Beispiel hierfür ist vielleicht der Kommentar auf die bauliche Entwicklung Berlins entlang der Berliner Mauer. Dass Petzolds Undine als Historikerin in den Diensten des Berliner Bausenats lange Vorträge über die widersprüchliche Architektur von Berlin-Mitte nach dem Mauerfall hält ist zwar durchaus interessant, die Relevanz für Handlung oder Welt des Films erschließt sich allerdings nicht. Zwar kommentiert Undine an einer Stelle den auffälligen baulichen Widerspruch zwischen Form und Funktion im Wiederaufbau des Berliner Schlosses an Stelle des Palasts der Republik, und Petzold spielt mit seinem Film zweifelsohne mit ähnlichen Elementen. Doch im Gegensatz zu Transit stiftet sein neues Werk eine Verwirrung, welche die scheinbare Tiefe des Films nicht ganz rechtfertigt und vom Publikum viel guten Willen abverlangt.

Todos os Mortos (All die Toten)

Einer der portugiesischen Beiträge zum diesjährigen Wettbewerb spielt in Sao Paolo des Jahres 1899. Nur wenige Jahre nach der brasilianischen Unabhängigkeit und der Abschaffung der Sklaverei, beschäftigt sich der Film von Caetano Gotardo und Marco Dutra intensiv mit der Verarbeitung der düsteren Kolonialgeschichte des Landes. Eingeengt im reichen Anwesen einer weißen Familie eines Plantagenbesitzers versuchen mehrere Frauen mit den neuen Verhältnissen in der Gesellschaft zurechtzukommen. Interessant ist hierbei die weitgehende Abwesenheit von Männern. So sind die ehemaligen Sklavinnen und Hausherrinnen auf vielfache Weise mit einer sich verändernden Rollendynamik konfrontiert.

Obwohl der Film mit Sicherheit einen starken Kommentar im Diskurs der Dekolonialisierung Südamerikas darstellt, was von einer wirklich gelungenen letzten Szene unterstrichen wird, habe ich das gemächliche Tempo des Films als sehr anstrengend empfunden. Hierbei hat es allerdings auch nicht geholfen, dass ich ihn als dritten Film eines sehr langen Festivaltages gesehen habe und ich am ersten Tag noch keine Gelegenheit hatte eine effiziente Koffeinzufuhr sicherzustellen. Das wird morgen besser…

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