[ FIRST LOOK REVIEW ] Die filmische Essayierung literarischer Befindlichkeiten bespielen beim 67° Festival del film Locarno die geduldigen Leinwände: Künstlerische Selbstfindung und intellektuelle Selbstsicherheit, gepaart mit französischem Ästhetikbewusstsein und hipper amerikanischer Ökonomie-Autorenschaft, versetzen den im übrigen bibliophilen Cineasten in einiges Nachdenke.
Die französische Studie UN JEUNE POETE im Concorso Cineasti del presente sowie der amerikanische Indie-Film LISTEN UP PHILIP im Concorso internazionale mikroskopieren literarischen Alltag und Selbstbildnisse der Schöpfer von der Produktion über Veröffentlichung bis zur Rezeption ihrer Werke.
Ein beginnendes Leben, ein altes Ideal: Der inspirierte Künstler, allein auf der Suche nach den richtigen Worten, die der Welt um ihn herum entspringen. Dass die Musen nicht von außen und große Verse mehr den unendlichen Monologen innerer Vielstimmigkeit zu entnehmen sind, wird der 18-jährige Rémi in diesem Sommer in seiner ganzen Gedankenleere nicht erkennen. Allein durchstreift er den kleinen französischen Küstenort – still, aber nicht unaufdringlich mit Notizbuch und Stift bereit, bedeutende Worte von “unbekannt extern” zu empfangen.
Der metaphysische “Nicht-Film” UN JEUNE POETE vom anwesenden Jungregisseur Damien Manivel über einen “Nicht-Poeten” entfaltet mit gezwungenem, absurd kitschigen und überflüssigen Wortbrei eine schmerzliche Komik zum Fremdschämen und darf als absichtlich schlechtes Beispiel gelten, wie Textproduktion nicht funktionieren kann, wenngleich es vielen Jungschriftstellern heute ähnlich wie Rémi gehen dürfte: Sich vorzunehmen, Literatur zu erschaffen, verkennt den ursprünglichen Schritt zwischen Kopf und verlegten Buchdeckeln, nämlich den Text als mitstenografierte Selbstgespräche ohne vorweg schon erträumten Ruhm am Literaturhimmel. Rémi aber ist stumm wie der in acht Kapitel gegliederte Film, hat weder Drang zum Ausdruck noch Beobachtungsgabe oder gar echtes Interesse an seiner Umwelt. Alkohol, schöne Frauen, das offene Meer – die Inspirationsquellen großer Werke werden amüsant durchgenommen und vom blutleeren Rémi ins Ironische auf ihre pure Gegenständlichkeit reduziert. Als habe er das Bild des Künstlers aus einer Illustrierten geschnitten, in Gold gerahmt und sich als zu erreichende Karotte vor die eigene Nase gehängt, versperrt der Protagonist sich selbst die Geistesblitze spendende Interaktion in einem alltäglichen Leben. Nicht einmal der im Laufe des Films zum Gefährten avancierte Jungfischer Enzo kann, stellvertretend für den Betrachter, den Ergüssen Rémis etwas abgewinnen.
Viele Schritte im inneren und äußeren Literaturbetrieb weiter, aber ebenso taub für seine Umwelt, ist der mit viel Selbstgefälligkeit ausgestattete Hipster-Literat Philip aus New York, maßgeschneidert auf Wes Anderson-Stammspieler Jason Schwartzman, der zusammen mit dem schon verdienten Darsteller Jonathan Pryce als personifizierter Blick in die Zukunft und Idol Ike Zimmerman den Ansprüchen seiner Umwelt an ihn trotzt. Ob Freundin, Promotion-Prostitution für sein neues Buch (“Lesereise? Nö.”) oder schlicht die lärmenden Anwesenheitsbeweise der Großstatdtmenschen – Philips laute Ego-Stimme findet im garstigen Ike und seiner Sommerhütte den Fluchtpunkt von allem, was nicht völlig ihn selbst bestrifft und daher wertvolle Energie raubt.
Independent-Regisseur Alex Ross Perry, der zuletzt 2011 mit THE COLOR WHEEL in den Debüt-Wettbewerb Concorso Cineasti del presente von Locarno sowie in amerikanische Mumblecore-Kreise Einzug hielt, ist in LISTEN UP PHILIP mithilfe eines schön komponierten Darsteller-Ensembles bis in die Nebenrollen – vor allem auch Keith Poulson als suizidaler Jungstar-Journalist und Jess Weixler, die 2012 gemeinsam in SOMEBODY UP THERE LIKES ME im Concorso internazionale zu sehen waren – ein in jeder Szene straff und daher angenehm temporierter »Buch-Film« gelungen. Besonders harmonisch fügt sich hierbei die auktoriale Erzählstimme aus dem Off als Mittler zwischen den klar geschnittenen Charakteren und dem Betrachter, die das tatsächliche Geschehen um Gedanken und Gefühle der Figuren ergänzt, ohne aufdringlich dazwischen zu reden. Sowohl Philip als auch Ike, in besonderer Weise auch Philips Freundin Ashley, einer klugen und von ihm vielschichtig enttäuschten Fotografin und damit ebenfalls Künstlerseele, werden so eindrücklich porträtiert und mit nachfühlbarer Lebendigkeit ausgestattet.
Alex Ross Perry schickte mit diesem Film einen heimlicher Favoriten im Concorso internazionale ins Rennen um den Pardo d’oro, der am Ende nur knapp dem philippinischen (sic!) Beitrag “Mula sa kung ano ang noon” (From what is before) von Lav Diaz unterliegt.
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LISTEN UP PHILIP | USA 2013 – 110 Minuten – DCP
Regie: Alex Ross Perry
Drehbuch: Alex Ross Perry
Kamera: Sean Price Williams
Darsteller: Jason Schwartzman, Jonathan Pryce, Elisabeth Moss
UN JEUNE POETE | Frankreich 2014 – 71 Minuten – DCP
Regie: Damien Manivel
Drehbuch: Damien Manivel
Kamera: Julien Guillery, Isabel Pagliai
Darsteller: Rémi Taffanel, Enzo Vassallo, Leonore Férnandes
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Text: Antje Lossin, 19.08.2014 – Locarno’14