Im Gegensatz zu den Wettbewerbsfilmen, die noch um Anerkennung kämpfen, hat die Retrospektive den Vorteil, dass hier Werke gezeigt werden, die bereits eine gewisse Zeitspanne hinter sich haben.
In diesem Jahr haben sie sogar fast 80 Jahre auf dem Buckel und das Besondere:
Es werden vor allem Filme gezeigt, die den gewissen “Weimar Touch” – eine Anspielung auf den sogenannten “Lubitsch Touch” – widerspiegeln. Das sind Filme, die eine ästhetische oder inhaltlich Kontinuität der Filme aus der Weimarer Republik nach 1933 im Ausland aufweisen können.
Das wirklich Schöne in der Retrospektive ist die Kontextuierung der Filme. Häufig gibt es wenigstens eine kurze Einführung und das nicht nur von irgendwem, sondern von Menschen, die sich für diese Filme interessieren und/oder in die Produktionen involviert waren (u.a. Harold Nebenzal und Isabella Rosselini). Bisher habe ich mir 12 Filme der Retrospektive angeschaut und die haben sich wirklich alle gelohnt, natürlich in unterschiedlicher Stärke.
Die Reihe (immerhin 31 Filme) wurde in 5 verschiedene Kategorien eingeteilt:
1. RHYTHM AND LAUGHTER
PETER (Hermann Kösterlitz – Henry Koster), 1934
Franziska Gàal, die Hauptdarstellerin, spielt eine “Hosenrolle” und auch wenn sich mein Sitznachbar lautstark 35 Minuten über den “schlechten Anfang und den hohlen Witz” geärgert hat – es war eine großartige Komödie, an deren Humor man sich freilich erst gewöhnen muss, was sich letztendlich aber lohnt. Der Film wurde im noch nicht “angeschlossenen” Österreich gedreht und die mutige Hauptdarstellerin zeigte sich auch im realen Leben als entschlossen, als sie Anfang der 1940er Jahre zurück nach Europa reiste, um bei ihrer Familie zu sein! Sie überlebte, im Gegensatz zu ihren Kollegen Otto Wallburg, der in Auschwitz ermordet wurde.
2. UNHEIMLICH – THE DARK SIDE
LE CORBEAU (Henri-Georges Clouzot)
Der Rabe verfasst denunziatorische Briefe an alle möglichen Bewohner einer Stadt und stiftet so nicht nur Unruhe, sondern jeder muss nun auf der Hut sein und wähnt Böses… In der Frontline der Anschuldigungen steht Dr. Germain – ob der “deutsche” Name als Kritik an den Nationalsozialisten zu sehen ist? Die Hexenjagd nimmt einige Aspekte von FURY (Fritz Lang) vorweg. Vor allem wird hier mit Schatten und dem Schwarz-Weiß gespielt und nach der Trennungslinie zwischen den beiden Polen gesucht, das Visuelle spiegelt den Inhalt.
PIÈGES (Robert Siodmak)
Maurice Chevalier (Wahnsinn!) als Charmeur und Frauenschwarm gerät ins Kreuzfeuer Polizeiuntersuchung. Mehrere junge Frauen, die sich auf Kontaktanzeigen gemeldet hatten, verschwinden spurlos. Adrienne, deren Freundin unter den Verschwundenen ist, hilft der Polizei bei der Suche nach dem Mädchenhändlerring und verliebt sich (keine Frage) in Chevalier… Der Film gilt als Transferfilm zwischen den europäischen expressionistisch geprägten Chiaroscuro-Filmen und dem amerikanischen Film Noir.
3. LIGHT AND SHADOW
DAS GEHEIMNIS DER MONDSCHEINSONATE (Kurt Gerron)
Das traurige Schicksal des Regisseurs ist wahrscheinlich Vielen bekannt: Peter Lorre und Marlene Dietrich hatten versucht, Gerron noch in die USA zu holen. Doch dieser – in erster Linie wegen der Sprache – wollte in Deutschland bzw. den Niederlanden bleiben. Sein Gesicht wurde als “Prototyp des jüdischen Schauspielers” in der NS-Propagandamaschinerie verwendet und war auch dadurch ein bekanntes Gesicht. Als Gerron im KZ Theresienstadt war, musste er in dem Film “Der Führer schenkt den Juden eine Stadt” über das KZ mitspielen. Viele warfen ihm Kollaboration vor. Die Mitwirkenden des Filme wurden später nach Auschwitz transportiert und dort getötet. Vor diesem Hintergrund sieht man den spannenden Film, der ausschließlich mit natürlichem Licht arbeitet, natürlich anders und ist ein Stück Kulturgeschichte.
HOW GREEN WAS MY VALLEY (John Ford)
Roddy McDowall kennen viele sicher aus LASSIE – wer das nicht zugeben will, darf natürlich auch einfach sagen: achja, der John Ford-Film, den kenne ich! Jedenfalls spielt diese Familien- und Dorf-Saga mit Gegenwart und Vergangenheit, mit Realität und Imagination, mit starren Familienhierarchien und gewerkschaftlichen Unabhängigkeitsbestrebungen. Starke Frauen und ein großartiger junger Schauspieler, McDowall, machen den Film auf Großleinwand zu einem einmaligen Ereignis! John Ford bezieht sich in seinen visuellen Aspekten stark auf Friedrich Wilhelm Murnau, den er auch persönlich kannte.
MOLLENARD (Robert Siodmak)
Mollenard (Harry Baur – wundervoll!) ist Commandeur auf einem Schiff, seine Crew würde alles für ihn tun, er ist eine Mischung aus gutmütigem Seebär und hartnäckigem Befehlshaber. Seiner Frau, die zu Hause das Regiment führt, fehlt das gutmütige Element und so kommt es bei der Konfrontation der beiden (fast) zum Äußersten… Harry Baur wurde 1942 noch von Joseph Goebbels gefeiert, jedoch später, da angeblich Jude, verhafteten die Nationalsozialisten Baur und seine Frau. Nach vier Monaten Gefangenschaft und Folter, wurde er zwar freigelassen, erholte sich jedoch nie wieder und starb 1943 an den Folgen.