Film ohne Film? Reduzierung auf Null und Nichts? Eine lahme, in den Deckmantel des Gewagt-Neuen gehüllte Ausrede, nicht einmal einen Film machen zu müssen, um vor einem internationalen Kinopublikum kurze Aufmerksamkeit zu bekommen ? Mitnichten! – Das diesjährige Themenprogramm mit dem schönen Titel “Memories Can’t Wait – Film without Film” – kuratiert vom finnischen Weltformat-Künstler Mika Taanila – reflektiert genau jenes Verständnis von Film und Kino, das so vielleicht nur noch im Mikrokosmos Filmfestival existiert: Film im Kino – großformatig, sozial, im Auge des Betrachters. Auch der Film als immaterieller Stoff wird rückbesinnt auf seine ebenso auf die Vorstellungskraft des Konsumierers angewiesenen Verwandten Rundfunk und Literatur. Ton und Stimmen, Text und Performance werden eine unerwartete Vielschichtigkeit dieses mutigen Themas lebendig werden lassen. Ganz im Brecht’schen Sinne sollen Zuschauer mitmachen, sich verändern, verstehen.
Das Eröffnungsprogramm wartet in diesem Sinne mit Licht und Schatten, Fliegern und Engeln, mit Ruttmann und Godard auf und zwingt das Publikum gekonnt zu Aufmerksamkeit und Aktion.
Der “Nicht-Film” HELL’S ANGELS von Ernst Schmidt jr., entstanden bei einem Filmemachertreffen in Stuttgart 1969, dem Aviator Howard Hughes gewidmet, macht also den Anfang: Wie Sie sehen, sehen Sie nichts! Überraschung? Alte “Lichtburg”-Programme auf den Kinosesseln – man wunderte sich ja schon beim Okkupieren seiner purpurnen Sitzgelegenheit. Minutenlang Spannung, Entspannung, Geflüster, Erheiterung, Ungeduld. Von hinten und vorn segeln mit einem Mal wenige Papierflieger aus den alten Programmen durch den dunklen Saal, der im Lichte des lediglich weiß ratternden Leinwandbildes dumpf erstrahlt. Wir verstehen, machen mit. Allgemeines Gelächter, Spieltrieb, Klassenzimmer-Stimmung. Von hinten reißt der Nachschub an immer raffinierter konstruierten Fliegern nicht ab (Howard Hughes!) Ein kühner Leinwandstürmer landet sein Flugobjekt im unteren Spalt der Leinwand, anerkennendes Klatschen. Die Flieger kommen von vorn zurück, ein Kreuzfeuer erwachsener Fernpiloten. “Vorführdauer: flexibel” – man hat einfach Spaß und lässt vorsichtig Erkenntnis reifen. Irgendwann ist Schluss, Begeisterung über den Einstand. Zu Recht.
Vorführung und Projektion in einem: William Rabans process cinema-Performance 2’45” passiert soeben, jetzt gerade, wird noch kommen. Ein Film, der ohne den Vorführakt erstrecht nicht denkbar ist. Das Werk wird nämlich während des Festivals wachsen. Wir auch.
3D-Kino vom feinsten, weil einfachsten liefert Tony Hill mit seiner über 40 Jahre alten Performance POINT SOURCE. Eine Lampe und einige Gegenstände bilden Kamera, gefilmtes Geschehen und Projektor zugleich. Ein Schattenspiel, das den Saal erfüllt – da stülpt sich ein einfacher Korb über die heftig nach Erklärung und Genuss suchenden Kinogänger wie ein Käfig oder auch Schutzraum. Surreal, kurz, pointiert und gekonnt bekommen wir so langsam eine Ahnung davon, was der finnische Kurator da mit uns vorhat.
Und? Was lief in deinem Film grade? – Walter Ruttmanns (“Berlin – Sinfonie der Großstadt”) legendäres Hörspiel WEEKEND, das er im Auftrag von Funk-Stunde Berlin unter Verwendung eines 35 mm-Lichttonstreifens schuf und am 13. Juni 1930 uraufgeführt wurde, funktioniert hier als Film ganz aus dem Ton heraus. Die Geräuschcollage Berliner Wochenendler erzeugt subjektive und daher umso intensiver wahrgenommener Bilder im persönlichen Kopfkino. Ein Meilenstein der deutschen Radiogeschichte, eine Perle im Kinosaal, die heute noch Lust machen, sowohl die ursprünglichen Verwandtschaften beider Medien, die heute alle Nase lang für tot erklärt werden, zu entdecken, als auch zu begreifen, dass ein und dasselbe Saalpublikum völlig verschiedene Filme gesehen haben kann. Auch NOTHING (Ernst Schmidt jr., 1968)
Nicht viel und doch die ganze Leinwandwelt präsentiert auch Peter Miller mit seinem Rollentausch PROJECTOR OBSCURA aus der Sicht von 35 mm-Projektoren, die anstelle der Filmkameras die Welt vor ihrem Objektiv festhalten: Vorhang auf! Zum Vorschein kommen sieben leere Saalbühnen.
Leer bleibt sodann die Leinwand vor dem Grandseigneur Jean-Luc Godard in CHANGER D’IMAGE von 1982 – abgesehen vom Regisseur selbst, der in einem abgewandten Monolog über die moderne mediale Informations- und vor allem Bild-Müllinstrustrie verzweifelt, die Recherchearbeit mit Suche nach Arbeit verwechselt und nie das Eigentliche zwischen Bildern meint oder gar vermittelt. Und so wie Opa seine Autofahrten auf Bitten der Enkel nicht bis ans Ende aller Tage im lediglich ersten Gang bestreiten soll, so müssen auch Filmemacher wie Godard in aller Dringlichkeit Bilder des Wandels finden.
Wie ein Zwischentitel wirkt schon der letzte Beitrag des Programms: Roland Sabatiers ENTRAC’TE ließt sich wie ein an einen selbst adressiertes Poster – wir selbst bilden die Tonspur, unser Ensemble stummen Gelächters und dröhnenden Wunderns über das gegenwärtig Erlebte mündet in das unheimliche Gefühl, von einem 45 Jahre alten Film mit nur einem Bild regelrecht überwacht und durchschaut zu werden – der nachhallende Silberblick all jener mutiger und ehrlicher Bewegtbildkünstler dieses ersten Themenprogramms, die es tatsächlich fertig brachten, Film without Film zu machen.
Text: Antje Lossin (07.05.2014) – Oberhausen’14