# 16: Berlinale 2014 – Resümee und Ranking


Seit Montag bin ich wieder in Freiburg und komme langsam vom Berlinale-High runter. Das Festival hat Suchtfaktor und der ganz normale Alltag mutet dagegen schon ziemlich langsam und real an.. Doch noch gibt es eine Menge nachzutragen, da nur ein Bruchteil der gesehenen Filme seinen Weg in unseren Blog gefunden hat..

Wie von Robert bereits geposted, stehen die Gewinner seit Samstag fest.

Und wie es halt so ist, habe ich viele Filme des Wettbewerbs gesehen, aber genau die Hauptgewinner nicht. Mein und pressemäßig der allgemeine Favorit BOYHOOD von Richard Linklater wurde zwar auch ausgezeichnet und natürlich THE GRAND BUDAPEST HOTEL (von dem ich dachte, er laufe außer Konkurrenz), aber BLACK COAL, THIN ICE und THE LITTLE HOUSE konnten in meinem Plan leider nicht mehr untergebracht werden.

Innerhalb der Woche wurden aber nicht nur die Bären vergeben, sondern auch die Preise der unabhängigen Jurys, wie der Fipresci-Jury (bestehend aus internationalen Filmkritikern), der ökumenischen Jury, des queeren Teddy-Awards, des Panorama-Publikumspreises und Caligari-Filmpreises, zu dem Jennifer bereits berichtete und viele mehr…

 

Kreuzweg von Dietrich Brüggemann © Alexander Sass

Der Preis der ökumenischen Jury ging an KREUZWEG von Dietrich Brüggemann und ihre Empfehlung galt ’71 (bereits besprochen). Die Jury “ehrt mit den Preisen Filmschaffende, die in ihren Filmen ein menschliches Verhalten oder Zeugnis zum Ausdruck bringen, das mit dem Evangelium in Einklang steht, oder die es in ihren Filmen schaffen, die Zuschauer für spirituelle, menschliche und soziale Werte zu sensibilisieren.” (http://www.berlinale.de/de/das_festival/preise_und_juries/preise_unabh_ngigen_jurys/index.html). Zwingend mit kirchlichen Themen beschäftigen mussten sich die Filme nicht, doch KREUZWEG ist da eindeutig einzuordnen. In 14 Kapiteln, die die Titel des Kreuzweges tragen, geht es um die 14-jährige Maria, die ihr Leben opfern möchte, um ihrem kleinen kranken Bruder, der nicht spricht, Gottes Hilfe zu sichern. Ihre Familie ist Mitglied der Pius-Gemeinschaft, einer besonders konservativen christlichen Glaubensgemeinde.

Kreuzweg von … ->© Dietrich Brüggemann

Bereits in der ersten Szene schlackern einem die Ohren, als der Priester (Florian Stetter, auch als Schiller in GELIEBTE SCHWESTERN zu sehen) in der Sonntagsschule den Kindern die religiöse Botschaft verkündet. Ohne Schnitt ist die Kamera in der ersten Szene starr auf ihn gerichtet, rechts und links seine SonntagsschülerInnen. Keine Popmusik, denn sie ist satanisch, ewige Buße für Sünden, die im Alltag lauern. „Wir alle sind Sünder“, werden bestraft mit Krankheiten, wenn wir ein nicht gottgefälliges Leben führen. So muss vielleicht auch Marias kleiner Bruder, der nicht sprechen kann, eine Strafe Gottes ertragen, fragt sich Maria und beschließt, sich für ihn zu opfern. Allmählich verhungert sie, seelisch und körperlich. Ihre Familie ist auf den ersten Blick freundlich und liebevoll, doch schnell wird das Bild durch ihre Intoleranz, Strenge und völlig absurd harten Erziehungsmethoden dekonstruiert. Maria darf nicht am Sportunterricht teilnehmen, wenn dabei satanische Musik läuft, sie darf nicht in einem normalen Kirchenchor singen, da Gospel und Soul Geist und Herz in Verwirrung bringen. Brüggemann lässt hier eine Geschichte entstehen, die den Blick in die Abgründe hochkonservativer religiöser Gemeinden wirft, ohne dabei reißerisch zu werden und das Thema bis ins kleinste Detail auszuschlachten. Die Dramatik entsteht eher durch die Beobachtung von Maria und die große Last, die sie auf ihren Schultern tragen muss und schon im Titel ist angedeutet, wie ihr Leben ein Ende findet, welches meiner Meinung nach das einzige Manko des Films ist.

Achtung Spoiler:

 

Maria stirbt und ihr Bruder fängt an zu sprechen.. was soll das bitte für eine Botschaft sein??? Opfere Dich, und deine Familie wird gesund? Dieser kleine Moment ist mit zu zweideutig und hinterlässt so die einzig schlechte Seite des sonst überzeugend konzipierten Films (siehe Silberner Bär für Drehbuch).

 

Zu AIMER, BOIRE ET CHANTER muss ich nichts mehr sagen, außer, dass ich den Erfolg des Films nicht fassen kann.. Dass der Film gerade den Preis der Fipresci-Jury erhielt, hat mich besonders gewundert. Hier zeichnen internationale Filmkritiker aus und die müssten doch eigentlich wissen, was gut ist..;)

Boyhood von Richard Linklater © Berlinale 2014

BOYHOOD hat absolut den silbernen Bären für die beste Regie verdient, spielte aber eigentlich in einer anderen Liga als viele der anderen Wettbewerbsfilme. Linklater hat einen Film gemacht, der unter anderem durch die Tatsache besticht, dass sich Geschichte und Drehzeit über 12 Jahre erstreckten. Alle Charaktere und Schauspieler werden älter und wachsen zusammen. Daraus ergibt sich ein unspektakulär spektakulärer Film über…. tja, nichts besonderes eigentlich. Geschiedene Eltern, ein Vater, der sich nach langer Zeit der Abwesenheit wieder annähert, ein trinkender neuer Ehemann der Mutter, erste Liebe, College, Alltagskonflikte. Meine Sympathien gelten allen, doch besonders Ethan Hawke als Vater habe ich ins Herz geschlossen. Er ist kein großer Held, nicht der spannende sich rar machende Vater, er ist da, spielt mit seinen Kindern, drückt seine Gefühle auf sehr holprige aber sympathische Art aus.  Mag ein bisschen kitschig klingen, ist es vielleicht auch, aber stimmig.. Das Ende ist wie der ganze Film. Alles ist irgendwie gut, doch von einem konventionellen Ende weit entfernt. Der Soundtrack dazu entspringt immer gerade dem Jahr, in dem sich der Film befindet. Fast 3 Stunden Film.. und keine Chance, früher den Saal zu verlassen, um den nächsten Film zu schaffen. Jede Minute ist kostbar..

Da die meisten Filme, die ich in Berlin gesehen habe, nicht ausgezeichnet wurden, sind hier meine eigenen Bewertungen:

Schulnoten von 1 – sehr gut bis 6 – sehr schlecht

Wettbewerb:

’71 (Yann Demange):  Nordirland-Konflikt – 2

Praia do Futuro: unterirdisches Drama (bereits besprochen)- 6

Aimer, Boire et Chanter (Alain Resanais): völlig überkünsteltes Schauspiel- 5

Aloft (Claudia Llosa): Übernatürliche heilende Kräfte, Mutter-Sohn-Konflikt, zu oberflächlich, Potential zu wenig ausgeschöpft- 4                                            

Die Geliebten Schwestern (Dominik Graf): Dreiecksgeschichte zwischen Schiller, Charlotte und ihrer Schwester Caroline, erster Teil locker leicht wie Jane Austen, zweiter Teil düster, filmisch komplex durch fragmentarische Szenen, Überlappungen und hautnahe Charakterinszenierung- 2                                           

The Grand Budapest Hotel (Wes Anderson) : bereits applaudierend berichtet- 1

Jack (Edward Berger): zwei Jungen suchen ihre Mutter im emotional eiskalten Großstadtdschungel von Berlin- 2

Kreuzweg (Dietrich Brüggemann): siehe oben- 1-2

The Monuments Men: der neueste Clooney, enttäuschend, wie ein schlechter Abklatsch von Ocean’s Eleven, Bill Murray und Bob Balaban sind die einzigen Lichtblicke des ansonsten unterirdischen Films- 5

Nymphomaniac Vol. I (Lars von Trier): Sehr unterhaltsamer Porno, der schon im Vorfeld durch geschickte Vermarktungsstrategien beworben wurde und in unzensierter Fassung als Weltpremiere in Berlin zu sehen war; im Gegensatz zu Antichrist und Melancholia gefälliger und leichter zu ertragen, und überraschend anders als man es von L v. T erwartet hätte, Charlotte Gainsbourg und Stellan Skarsgard sind eine wunderbare Kombination aus Nymphomanin und asexuellem Gesprächspartner, außerdem verdient der sensationelle Auftritt von Uma Thurman großen Applaus- 1

La Tercera Orilla (Celina Murga): Ein Vater, der offiziell ein Doppelleben führt und dessen Sohn die Last nicht erträgt, den Vater nicht greifen zu können, ihn nie ganz als Vater gehabt zu haben. Mittelmaß- 3

Two Men in Town (Rachid Bouchareb): bereits berichtet– 2

Panorama

Is the Man who is Tall Happy? (Michel Gondry): nach dem Interview mit Michel Gondry hatte ich mir ungefähr ein Bild davon gemacht, was mich im Film erwartet. Besonders wichtig ist, den Film im Wachzustand zu schauen, er braucht viel Aufmerksamkeit und ist dicht gespickt mit sehr sprachtheoretischen Details, auch wenn Chomsky sehr geduldig und humorvoll auf Gondrys Fragen eingeht. Ein Film, bei dem man einiges lernen kann.- 1

Calvary (John Michael McDonagh): Ein Priester erfährt bei der Beichte, dass er in einer Woche umgebracht werden soll..-  2-3

Yves Saint Laurents (Jalil Lespert): Über das Leben von Yves Saint Laurent, gewaltige Musik, manchmal kommt die Dramatik der Handlung der Musik aber nicht hinterher. Sehenswert.-  2,5

Love is Strange (Ira Sachs): Über ein schwules Pärchen, das nach langen Jahren Zusammenleben heiratet und daraufhin die gemeinsame Wohnung verliert. Sehr ruhig und sympathisch- 2

Forum

The Airstrip (Heinz Emigholz): Architektonische Weltreise (bereits besprochen)- 2 (obwohl schwer mit Filmrating einzuordnen)

Al doilea joc (The Second Game – Corneliu Porumboiu): Regisseur und Vater schauen gemeinsam ein Fußballspiel von 1988, bei dem der Vater Schiedsrichter war und kommentieren die Spielweise, die Korruption im Sport, Politik.. die Kommentare kommen aus dem Off, man schaut 90 Minuten ein Fußballspiel und ist dabei wirklich bestens unterhalten.. – 1-2

Huba (Parasite – Wilhelm Sasnal, Anka Sasnal): Wo das Parasit in diesem Film sitzt, kommt auf die Perspektive an. Für die Frau ist es ihr Baby, zu dem sie absolut keine Bindung zu haben scheint; für den Mann seine  Krankheit, die ihn von innen auffrisst; für beide die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation, die ihnen ihre Kraft raubt. Hautnah und ekelhaft physisch.. nackte leidende Körper und kranke Körperflüssigkeiten schaden dem Film (nur 66 Minuten) nicht, doch braucht man eine Weile zum Verdauen und nochmal würde ich ihn mir nicht ansehen.. – 3

Nagima (Zhanna Issabayeva): eines meiner Highlights im Forum, über das ich im Interview mit Zhanna Issabayeva mehr zu den Hintergründen erfahren konnte. Es geht um Nagima, ein kasachisches Mädchen, die mit 18 Jahren aus einem Kinderheim entlassen wird und von da an mit ihrer schwangeren “Schwester” Anya in einer Bruchbude zusammenlebt. Als Anya im Kindbett stirbt, kümmert sich Nagima um ihr Baby und wie in PARASITE wird das Kind zur Belastung und zu einem Wesen ohne Zukunft in dieser lieblosen Umgebung. Filmisch erscheint Nagima immer als Nebensache, Bilder warten ruhig, bis sie hereinkommt und wieder herausgeht, die Kamera folgt ihr nie direkt. Ein Film über Einsamkeit und Lieblosigkeit und die emotionalen Konsequenzen. Mit wenigen Gesten und Worten hat Dina Tukubayeva eine unglaubliche Präsenz auf der Leinwand. – 1

Nagima von Zhanna Issabayeva © Berlinale

Padurea e ca muntele, vezi? (Christiane Schmidt, Didier Guillain): Bei einer Reise durch Rumänien lernten Christiane Schmidt und Didier Guillain die Bewohner eines Roma-Dorfs kennen und blieben eine Zeit bei ihnen, um an ihrem Leben in der rumänischen Provinz teilzunehmen. Irgendwann dann das Vorhaben, aus ihren Erlebnissen einen Film zu machen. Besonders schön war das Publikumsgespräch nach dem Film, bei dem auch die Familie anwesend war.. – 2-3

Retrospektive

Dirnentragödie (Bruno Rahn, 1927): zwei Prostituierte leben in einer gemeinsamen Wohnung, die ältere lernt einen jungen Mann kennen, der in einer Lebenskrise bei ihr Zuflucht sucht. Sie malt sich mit ihm eine rosige Zukunft aus, die jedoch jäh zerstört wird, als ihre junge und schöne Mitbewohnerin den Mann verführt und mit ihm verschwindet.. eine sehr tragische Tragödie, wunderbar untermalt von Maud Nelissens melancholischen und dramatischen Klavierspiel. Das Spiel mit Licht und Schatten verstärkt die Tragik der Hauptfigur und die fatale Entwicklung ihrer Geschichte – 2

Sono yo no tsuma, “That night’s wife” (Yasujiro Ozu, Japan 1930): Spannende Verfolgungsgeschichte und Familientragödie. That night’s wife ist die Frau eines Mannes, der in einer düsteren Nacht eine Bank überfällt, um die Behandlung seiner kranken Tochter weiterhin zu bezahlen. Die Polizei kommt ihm auf die Schliche und durch Schattenspiele an der Wand, scherenschnittartige Umrisse auf Türen beginnt eine spannende Verflogungsjagd, die durch das Bangen um die kranke Tochter noch verschärft wird. Der Film zeigt, wie Beleuchtung und Schattierungen im Film eine eigene Sprache sprechen, ja eine Rolle innehaben und ist somit ein perfektes Exempel der Retrospektive: “Die Ästhetik des Schatten”. – 1

Stagecoach (John Ford, 1933): In einer Kutsche macht sich eine sehr heterogene Gruppe auf den Weg in Richtung Lordsburg.. Schöner Western mit John Wayne und Claire Trevor als “Misfits” der Wildwestgesellschaft der 30er Jahre, die zum Schluss durch ihre charakterliche Integrität alle anderen in den Schatten stellen. – 2-3

The naked City (Jules Dessin, 1948): bereits von Jenni besprochen, ein Film über New York und die New Yorker mit einem köstlichen Kommentator aus dem Off.. – 1

The Docks of New York (Josef von Sternberg, 1928): bereits besprochen – 2

The Iron Mask (Allan Dwan, 1929): Das Bild unten sagt schon viel über die Ästhetik des Schatten in diesem Film aus. Doch neben den Schatten der Musketiere und den Umrissen versteckter Bösewichte ist mein schauspielerisches Highlight Douglas Fairbanks, dessen athletische Perfomance echt beeindruckt und sein heroischer Körper- und Gesichtsausdruck einfach zum Nachahmen einladen:) – 1

Courtesy of Photoplay Productions © 1999, Photoplay Productions

The Dawn Patrol (Howard Hawks, 1930): Einer der Fliegerfilme von Howard Hawks, in denen ein besonderes Augenmerk auf die Fliegerei im Krieg liegt und in diesem Fall auf die Tragik der Dawn Patrol, die in Sonnenaufgangsflügen beim Feind größtmöglichen Schaden anrichten sollen, aber offensichtlich eher einem Selbstmordkommando gleichen. Am Motorengeräusch der zurückkehrenden Flugzeuge zählt man die Überlebenden, die Namen der Toten werden von einer Tafel gewischt, wo jeden Tag neue Flieger hinzugefügt werden, um sie einige Tage später wieder auszuwischen. Die Sinnlosigkeit solcher militärischen Unternehmungen, aber auch das Heldenhafte, dass zum Bild eines Fliegers gehört, werden hier sehr eindrücklich präsentiert. – 2

Berlin – Symphonie einer Großstadt (Walther Ruttmann, 1927): Zum zweiten Mal habe ich mir die Symphonie mit Begleitung von Günter A. Buchwald in Berlin angesehen und war wieder überwältigt, von der gewaltigen Inszenierung der Dynamik einer Stadt, die nie stillsteht… Synchronität von Bild, Maschinen und Rhythmus der Musik kreieren ein neusachliches Werk, das die Sachlichkeit der Realität durch den industriellen Rhythmus von Arbeits- und Alltagsleben auf der Leinwand entstehen lässt. – 2

 

 

 

 

 

 

 


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